„Alice in Wonderland“ von Luiz Fernando Bongiovanni

„Alice in Wonderland“ von Luiz Fernando Bongiovanni

Träume und Alpträume vom Erwachsenwerden

„Alice“ beim Ballett im Revier

Luiz Fernando Bongiovannis „Alice in Wonderland“ ist ein neuer Beweis dafür, dass auch eine kleine Kompanie großes Ballett bieten kann, wenn alle am Theater mitziehen.

Gelsenkirchen, 10/11/2015

Lewis Carrolls psychologisch-mathematisch unterfüttertes „Nonsens“-Märchen hat in dieser Spielzeit, 150 Jahre nach der Erfindung, auch in Westfalen Hochkonjunktur. Tanzfans können gleich drei unterschiedliche Tanzversionen erleben. Neben der Wiederaufnahme von Ricardo Fernandos gefeierter Choreografie in Hagen (ab 5. Dezember) gastiert im Konzert-Theater Coesfeld (am 20. Februar) Gauthier Dance mit Mauro Bigonzettis Ballett. Bridget Breiner lud den Brasilianer Luiz Fernando Bongiovanni ein, seine fantastischen Visionen eines Teenagers an der Schwelle zum Erwachsenwerden mit dem Ballett im Revier einzustudieren.

Fast wie ein Adventskalender, gebastelt aus Abfalltüren und anderen schäbigen Wandelementen von der Müllhalde, sieht die Wand aus, die das sterile Heim von der Fantasiewelt des Mädchens trennt. Die zierliche Francesca Berruto im schwarzen Kleid mit weißem Bubikragen, wie eine Pensionatsschülerin, trägt die Haare zu zwei putzigen Schnecken auf dem Kopf festgesteckt. Steif, verschüchtert und mit grimmigem Blick sitzt sie am Tisch zwischen den gesichtslosen Eltern (Ayako Kikuchi und Junior Demitre), die ihre Machtkämpfe mit bizarrem Fingerhakeln austragen. Immer wieder rollen die Eltern mit ihren Stühlen und dem Tisch durch den Raum. Alice kann mit ihrem Stuhl kaum folgen. Schließlich gibt sie ihr ‚Klammern‘ auf und hängt ihren Träumen nach ... von einer Nacht mit schrillem Discotanz.

In der Wand springt danach eine Klapptür auf, ein Arm streckt sich dem Kind entgegen – woanders wird der Kopf einer roten Puppe sichtbar. Dann hopst das weiße Kaninchen im schwarzen Frack eines Zauberers (Gast Valentin Juteau) durch eine Drehtür auf die Bühne. Eine Flügeltür öffnet sich, um eine Truppe schräger Vögel auszuspucken. Das Spiel beginnt. Das blaue Auge einer Porzellanpuppe wacht über den wilden Tänzen zwischen Klassik, Jazz Dance und Hip-Hop. Besonders köstlich ist die ‚Teaparty‘ im Galopp (die an Kyliáns „Happy Birthday!“ für NDT III erinnert). Kostümbildnerin Ines Alda leistet hierbei wie überhaupt ganze Arbeit.

Wenn Alice zwischendurch zum Atemholen und Nachdenken kommt, ziehen Kindheitsbilder (der Tänzerin) auf einem Monitor und in kurzen Tanzszenen vorbei. Das enge Elternhaus steht kopf. Wenn drei Alice-Doubles mit langen schwarzen Ponyfrisuren Varianten erwachsenen (Lotter-)Lebens anbieten, stellt Alice fest, dass das nicht so recht zu ihr passt. Besonders bizarr geht's am Hof von Herzkönigin (köstlich exaltiert: Bridget Breiner) und Herzkönig (Louiz Rodrigues) zu. Erschöpft und erleichtert erwacht Alice schließlich.

Bridget Breiner hat wirklich gute Karten am Haus. Bongiovannis „Alice in Wonderland“ ist ein neuer Beweis dafür, dass auch eine kleine Kompanie großes Ballett bieten kann, wenn alle am Theater mitziehen. So wird für diese Produktion im Kleinen Haus des Musiktheaters im Revier die Guckkastenbühne abgebaut, um eine größere Spielfläche zu schaffen. Zwei Seitentribünen mit jeweils drei langen Reihen wurden für die Zuschauer installiert und das Parkett verkürzt. Der Blick vom eigentlich ungeliebten Rang ist fantastisch. Die weitgehend neu engagierte Truppe, die durch drei Gäste ergänzt wird, leistet mit der Übernahme mehrerer Partien Beachtliches. Auch die Projektion von Kernsätzen aus Carrolls Kinderbuch auf die Türenwand geben der Inszenierung Pepp.

Übrigens: eine schmuddelige, angekratzte Zimmertür blieb Bühnenbildnerin Britta Tönne offenbar übrig: Sie ist nun zwischen Treppenaufgänge und Vorhänge vis-à-vis vom Pausenraum gequetscht. Zu ihr zu gelangen, verlangt halsbrecherische akrobatische Fähigkeiten. Vielleicht ist sie als Entrée für Zuschauer montiert, die keine Karte mehr für die stets ausverkauften Vorstellungen bekommen haben.

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