Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas: „Golden Hours (As you like it)“

Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas: „Golden Hours (As you like it)“

Wenn „Goldene Stunden“ den grauen Alltag durchbrechen

Anne Teresa De Keersmaeker / Rosas zeigt „Golden Hours (As you like it)“ als Erstaufführung im deutschsprachigen Raum beim Steirischen Herbst

„Golden Hours“ bietet den Luxus, zwei gute Stunden in eine anspruchsvolle, differenzierte, ausgeklügelt durchdachte Choreografie einzutauchen.

Graz, 19/10/2015

Sie ist bekannt für sperrige Arbeiten mit komplizierten Anknüpfungen. In ihrem aktuellen Stück „Golden Hours (As you like it)“ bedient Anne Teresa de Keersmaeker gleich zwei fette Referenzen, den Brian Eno Song „Golden Hours“ und die Shakespeare Komödie „Wie es Euch gefällt“. Mit dem wundervoll jungen, 11-köpfigen Ensemble Rosas packt die 55-jährige belgische Vorzeigechoreografin ihr üppiges Vorhaben in ein 140-Minuten-Stück ohne Pause als ein Höhepunkt des heurigen Steirischen Herbstes.

Obwohl der Titel des Tanzstückes dem Eno-Song „Golden Hours“ des Albums „Another Green World“ aus dem Jahr 1975 entlehnt ist, entpuppt sich das Pop-Zitat im Laufe des Abends als marginale Setzung verglichen mit William Shakespeare. Zwar umrahmt Enos rockige Musik die Produktion – vor allem „Golden Hours“ dominiert mit einer zehnminütigen Einspielung in Endlosschleife die wuchtige Unisono-Eingangsszene der elf Tänzerinnen und Tänzer. Danach flackert die Musik jedoch lediglich fragmentarisch, durch den ins Bühnengeschehen bestens integrierten Live-Gitarristen Carlos Gabin, auf, bis sie im Epilog erneut gewaltig aus den Lautsprechern aufbrausend verhallt.

Während man über die Musik nichts wissen muss, um den Abend zu genießen, erleichtert die Kenntnis der Handlung von „Wie es Euch gefällt“ den Zugang beträchtlich. Eng hält sich Keersmaeker an die Dramaturgie der fünfaktigen Komödie aus dem Jahr 1599 über die Liebesangelegenheiten adeliger Jugendlicher. Sie projiziert die Nummern der Akte und ausgewählte Textstellen an die Rückwand der leeren Bühne, die atmosphärisch von einer überdimensionierten, gleisend hellen Industriebeleuchtung geprägt ist. Wer jedoch versucht, die Textstellen mit dem Tanz zur Deckung zu bringen, wird enttäuscht. Schon die Rollenverteilung zwischen Herzog Senior, Herzog Friedrich, den adeligen Sprösslingen Orlando, Oliver, Rosalinde, Celia, dem Narren Touchstone, Ziegenhirtinnen, Schäfern und Waldwesen verschwimmt beständig. In ihren Casual Clothes aus Turnschuhen und schwarzen Leggins bleiben die Tänzerinnen und Tänzer trotz individueller Statur und verschieden gefärbter T-Shirts schwer zuordenbar. Mehrfachrollen, die lediglich durch das An- und Ausziehen einzelner Kleidungsstücke markiert sind, sowie das Aussparen theatraler Zeichen wie Dekor und Requisite behindern den Überblick zusätzlich.

Dennoch bleibt es das Spannendste des Abends, ein Ensemble dabei zu beobachten, wie es versucht, Shakespeare ‚vom Blatt zu tanzen‛, woraus sich eine eigenwillige Bewegungssprache im Leerraum zwischen Expression, Psychologie, Formalismus und Abstraktion entwickelt. Die Körper der Tänzerinnen und Tänzer scheinen auf Keersmaekers Experiment „My talking is my dancing“ mit einer Körperspaltung zu reagieren. Während sich Beine und Füße zumeist raumgreifend, unakzentuiert und locker bewegen oder entspannt verharren, agieren Rumpf und obere Extremitäten gestisch geführter. Alltagsgebärden, insbesondere der Arme, schimmern durch, ohne eindeutig fassbar zu werden. So entsteht der Eindruck, dass sie der Handlung als Rezipientin stets etwas nachhinken. Mit dieser Erzählstrategie gewinnt Keersmaeker dem Verhältnis zwischen realer Zeit und Bühnenzeit neue Facetten ab. Auch meint man sich beständig mit Unfertigem konfrontiert, wobei sie just dieses Halbgare reizvoll in die klare Grundstruktur der kompletten Choreografie einbettet.

Denn ganz Meisterin der Geometrie im Tanz verräumlicht Keersmaeker die Stimmungen der einzelnen Akte formidabel. Das höfische Etikett versinnbildlicht gemeinsames, frontales Gehen in Slow-Motion. Die Vergnügungen im Wald übersetzt sie in schwarmförmiges Laufen der Gruppe, die Anbahnung von Liebesbeziehungen passiert über weit kreisende Raumwege. Intimitäten in Duetten und Trios finden unter Ausschluss öffentlicher Blicke statt. Hierzu verlassen die meisten des sonst durchgehend präsenten, höchst energetischen Ensembles die Bühne.
Als Epilog tanzt der charismatische Aron Blom ein einprägsames Solo als Rosalinde.

„Golden Hours“ bietet den Luxus, zwei gute Stunden in eine anspruchsvolle, differenzierte, ausgeklügelt durchdachte Choreografie einzutauchen. Abgeschirmt von der Außenwelt kann man in Ruhe über bildungsbürgerliche Kulturgüter und den ausschließlich weißen, eurozentrisch und mittelständisch wirkenden Cast der sympathischen Tänzerinnen und Tänzern kritisch nachdenken. Utopien, wie sie im Programmheft angedeutet werden, stellen sich keine ein. Obgleich angesichts des Happy End melancholisch eingefärbt, bleibt nach dem Applaus alles beim Alten: Finanzkrise, Flüchtlingsströme, Prekariat, Ohnmacht, Angst.

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