Nozomi Matsuoka
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Kreative Speerspitze

Brillante Ballettgala beendet die Ära Sutherland in Pforzheim

Ein letztes Mal, bevor sie in alle Winde zerstreut, das Pforzheimer Erbe an anderem Ort fruchtbar machen, steht das zehnköpfige Ballettensemble plus Gäste gemeinsam auf der Bühne.

Pforzheim, 06/07/2015

Bis auf den letzten Stehplatz im Rang ist das Theater Pforzheim ausverkauft. Das Publikum würdigt an diesem Abend mit einer Abschiedsgala ein kleines Ballettwunder. Was James Sutherland und Elsa Genova mit nur zehn Tänzern in 13 Jahren entwickelt haben, ist schlicht sensationell! Die Bilanz kann sich sehen lassen: Handlungsballette wie „Sommernachtstraum“, „Carmen“, „Giselle“, „Romeo und Julia“, „Cinderella“, „Schwanensee“ sowie „Nussknacker und Mausekönig“ hat die hochqualifizierte Kompanie völlig neu interpretiert und oft aus ganz aktuellen Perspektiven beleuchtet. Abstrakte Tanzabende wie „Kind of Love“, „Boléro“, „Quartett“ und „Sacre“ beeindruckten choreografisch, tänzerisch und dramaturgisch. Nicht zu vergessen spartenübergreifende Stücke wie „Orpheus und Euridike“, „Requiem“, „Tschaikowsky“ und „Der eingebildete Kranke“, sowie Operetten und Musicals, in denen das Ensemble mitgewirkt hat. Zusätzliche Produktionen wurden ins Programm aufgenommen; der absolute Hit war „Queen – Who wants to live forever“ mit 50 ausverkauften Vorstellungen.

„Den Sinn des Tanzes finden und definieren“, so bringt Sutherland sein Anliegen auf den Punkt. Gemeinsam mit seiner Stellvertreterin und Lebenspartnerin Elsa Genova moderiert der scheidende Ballett-Chef die Abschiedsgala. Das Duo zeichnet eine großartige Loyalität gegenüber dem Tanz aus, der sie vieles unterordnen. Wissbegierig, unermüdlich und selbstlos haben sie ihre Domäne immer wieder aufs Neue erforscht. Damit viele Menschen daran teilhaben können, wurden auch ehrenamtliche Projekte außerhalb des Theaters realisiert. Als pädagogisch besonders fruchtbar hat sich die Arbeit in der – dem Theater angegliederten – Ballettschule erwiesen.

Ästhetisch prägte die Zusammenarbeit mit dem Pforzheimer Kunstwissenschaftler und Design-Dozenten Robert Eikmeyer Stücke wie „Body Installation“, das „Flößer-Projekt“, das experimentelle Schauspiel „Tiger im Raum“ (mit dem Theater Reutlingen), die DVD „Beyond“ (mit der Medienhochschule Furtwangen), das „Kalte Herz“ (mit dem ZKM Karlsruhe) und last not least „Dark Waves“; allesamt Projekte, in denen die innovative Kraft sich allmählich zu einer eigenen choreografisch-dramaturgischen Handschrift verdichtet hat.

Nicht zuletzt profitierten auch die Tänzerinnen und Tänzer von der Dynamik der Innovation. Die Sutherland-Tänzer brauchen den Vergleich mit den Solisten aus Stuttgart und Karlsruhe nicht zu scheuen; sind ihnen hinsichtlich zeitgenössischer Bewegungsidiome und Experimentierfreude sogar eine Nasenlänge voraus. Solidarität und Freundschaft kennzeichnen diesen besonderen Abend. Die Begeisterung für die Gäste des Stuttgarter Balletts, des Ensembles Gauthier Dance und des Badischen Staatsballetts Karlsruhe mit Choreografien von John Cranko („Legende“), Uwe Scholz (Mozarts „Klavierkonzert Es-Dur“), Marco Goecke („Äffi“), Po-Cheng Tsai („Floating Flowers“) und Alejandro Cerrudo („Pacopepepluto“) ist ebenso groß und von Bravo-Rufen begleitet wie die Reminiszenzen an die vergangenen 13 Jahre des Pforzheimer Ensembles.

Ergänzt durch drei Ensemblemitglieder der ersten Stunde – Maria Bayarri Pérez, Cornelius Mickel und Marek Ranic – tanzen sich Risa Yamamoto, Carlotta Squeri, Mana Miyagawa, Nozomi Matsuoka, Camilla Marcati, Tu Ngoc Hoang, Toshitaka Nakamura, Ermanno Sbezzo, Maximo Marinelli und Davide Degano mit „Orawa“, „When I am Laid in Earth“, „Lamb of God“ und Ausschnitten aus „Sacre“ das Herz aus dem Leib – ein letztes Mal, bevor sie in alle Winde zerstreut, das Pforzheimer Erbe an anderem Ort fruchtbar machen.

„Das Ballett war die kreative Speerspitze des Pforzheimer Theaters“, mit Tränen in den Augen würdigt der scheidende Musiktheaterdirektor Wolf Widder die Leistung des zehnköpfigen Pforzheimer Ensembles. Dem wäre noch hinzuzufügen, dass es einen Intendanten von der Größe eines Erich Schäfer und Arno Wüstenhöfer bedurft hätte; sie wussten und wollten den Tanz kultivieren. Ohne sie hätte es weder das Stuttgarter Ballettwunder eines John Cranko noch das Wuppertaler Tanztheater einer Pina Bausch gegeben. Heutige Theatermanager sehen in der Tanzsparte eher eine lästige Konkurrenz, die man sich nach dem bewährten Prinzip „teile und herrsche“ vom Leib hält. Ballett und Tanz verkümmern zu Platzhaltern für das Gastspiel-Karussell. Die kreative Speerspitze hat ihren Dienst getan, die kreative Speerspitze kann gehen.

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