Thierry Malandains „Cendrillon“ an der Oper in Versailles
Thierry Malandains „Cendrillon“ an der Oper in Versailles

Die Stiefmutter mit der Gießkanne

Thierry Malandains „Cendrillon“ an der Oper in Versailles

Ein Choreograf, der ein neues Handlungsballett schaffen will, steht vor vielen Entscheidungen – Malandain lässt in seiner Version von Aschenputtel für das Ballett Biarritz einige dieser Entscheidungen offen, das Ergebnis ist hybrid.

Versailles, 19/03/2015

Ein Choreograf, der ein neues Handlungsballett schaffen will, steht vor vielen Entscheidungen – unter anderem muss er sich darüber klar werden, ob er das Geschehen darstellen oder nur andeuten will, ob er einen realistischen Raum oder einen Phantasieraum schaffen will, wie er die Figuren charakterisiert und voneinander unterscheidet. Thierry Malandain lässt in seiner Version von „Cendrillon“ (Aschenputtel) für das Ballett Biarritz einige dieser Entscheidungen offen, und das Ergebnis ist dementsprechend hybrid.

Der Rahmen, in dem das 2013 in San Sebastian uraufgeführte Werk gezeigt wurde, ist sowohl intim als auch grandios – es handelt sich um das prachtvoll ausgestattete kleine Opernhaus, das 1770 im Schloss Versailles eröffnet wurde. Getreu dem Erbe des tanzenden Ludwig XIV., der freilich die Eröffnung der Oper nicht mehr miterleben konnte, werden dort regelmäßig Gastkompanien für Ballettveranstaltungen eingeladen, und oftmals stehen – wie es bereits am französischen Hof im 18. Jahrhundert üblich war – zeitgenössische Werke auf dem Programm (natürlich eignet sich die kleine Bühne auch kaum dazu, beispielsweise einen klassischen „Schwanensee“ dort aufzuführen).

Anders als in seinem ebenfalls halb narrativen, halb assoziativen „Romeo“-Ballett zu Berlioz wählte er für „Cendrillon“ Prokofjews Partitur, wenngleich in gekürzter Form. Sie erklingt aus Lautsprechern in einer Aufnahme des Euskadi-Sinfonieorchesters – dies ist deutlich dem Massaker vorzuziehen, das Prokofjew und dem Ohr des Zuschauers vor einigen Tagen im Pariser Théâtre des Champs-Élysées widerfuhr, als das Sankt Petersburger Balletttheater mit „Romeo und Julia“ gastierte und das der Kompanie zugehörige Orchester die Partitur bis zur Unkenntlichkeit entstellte. Die Ausstattung zu Malandains Ballett stammte von Jorge Gallardo und war betont minimalistisch und zeitlos – so bestand beispielsweise das Bühnenbild aus einer Ansammlung von an allen Wänden auf verschiedenen Höhen angebrachten schwarzen Stilettos, die Cinderellas Ballschuhe widerspiegeln.

Dort fängt das Problem von Malandains Dramaturgie allerdings schon an: an keiner Stelle ist Cinderella beim Ball mit den schwarzen Stilettos zu sehen. Da diese so hoch sind, dass man viel Übung bräuchte, um darin auch nur zu gehen, wäre es in der Tat schlecht vorstellbar, dass Cinderella darin die ganze Ballsequenz bestreitet, doch bleibt es ein Rätsel, warum am Ende des Balls dem Prinzen völlig unvermittelt ein einzelner Schuh im Karton präsentiert wird, woraufhin er sich gleich auf die Suche seiner verlorenen Tanzpartnerin macht. Darüber hinaus könnte man anmerken, dass Malandain die Normalität und Natürlichkeit Cinderellas (und des Prinzen) so sehr betont, dass die extravagante Fußbekleidung eh nicht recht zu ihr passen will – so nimmt es nicht wunder, dass sie den ganzen Abend lieber auf halber Spitze tanzt und sich damit begnügt, den zweiten Schuh am Ende in der Hand zu halten.

Ganz anders verhält es sich mit der Stiefmutter und den Stiefschwestern (Baptiste Fisson, Frederik Deberdt und Jacob Hernandez Martin), die gewaltsam versuchen, sich in die mörderischen Pumps zu zwängen. Alle drei werden von kahlköpfigen Männern getanzt, wobei die Schwiegermutter sich zu Beginn auf Krücken über die Bühne schwingt – hier gelingen Malandain einige sehr einfallsreiche choreografische Passagen, wenn einem das trio infernal auch auf Dauer etwas zu bunt wird, vor allem am Ende, wenn sie in fluoreszierend türkisen Gewändern erscheinen und die Stiefmutter als Schlussbild mit der Gießkanne die Feenwelt bewässert.

Trotz der gekürzten Partitur ziehen sich – wie in den meisten „Cendrillon“-Versionen – manche Szenen sehr in die Länge, beispielsweise die Tänze der hier kaum unterscheidbaren Jahreszeiten-Feen und die Reise des Prinzen auf der Suche nach seiner Geliebten. Der Ball ist wenig glanzvoll und von kopflosen schwarzen Mannequins bevölkert, die wahrscheinlich die Leere und Hohlheit der Umgebung des Prinzen veranschaulichen sollen, aber einfach von grotesker Hässlichkeit sind. Gelungen ist dafür die Tanzstunde, in welcher der virtuose Zeremonienmeister seinen Schülerinnen und den impulsiven Schwestern Javotte und Anastasie beizukommen versucht.

Verwirrung stiften die Passagen der Feen und Visionen, aus denen man selbst nach Lektüre des Programmheftes kaum schlau wird. Zudem gelingt es Malandain kaum, den Figuren eine jeweils eigene Bewegungssprache zu verleihen, um sie deutlich von einander abzugrenzen – abgesehen vom Schwestern- und Stiefmuttertrio herrscht ein lyrisch-fließender Bewegungsstil vor, in dem der Choreograf besonders in Cinderellas Solos und Pas de deux mit dem Prinzen (Arnaud Mahouy) und ihrem Vater (Raphaël Canet) oft Momente von bemerkenswerter Harmonie schafft. Mit der grazilen Patricia Velázquez in der Titelrolle hat er sein Ballett einer außergewöhnlichen Tänzerin anvertraut, die ihren Teil der Geschichte vollkommen verständlich darstellt – sie versteht es, allein durch ihre Haltung ihren inneren Zustand auszudrücken – und den Zuschauer zu rühren vermag.

Thierry Malandain, sehr erfolgreicher und erfahrener Choreograf in Biarritz, zeigt in diesem Ballett, dass er ein virtuoser Schöpfer reiner Tanzpassagen ist – die Dramaturgie seines „Cendrillon“-Balletts lässt aber, ähnlich wie die seiner „Romeo und Julia“-Choreografie, noch etwas zu wünschen übrig. Eine klarere Zeichnung der Figuren würde hier bereits Wunder wirken, denn Malandains choreografisches Talent und das Potential und die Motivation seiner sehr diversifizierten Kompanie stehen außer Zweifel.

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