„Lulu“ von Hans Henning Paar

„Lulu“ von Hans Henning Paar

Grandios und anders als Christian Spuck

Hans Henning Paars „Lulu“ in Münster

Paar widmet sich in seinem neuen literarischen Tanzstück Frank Wedekinds skandalöser femme fatale "Lulu". Ihm gelingt ein ungemein spannendes Tanzdrama. Denn er gibt der "Monstretragödie" ein aktuelles, überraschend schlüssiges Profil.

Münster, 12/10/2014

Nach „Macbeth“ und „Das Schloss“ widmet sich Hans Henning Paar in seinem neuen literarischen Tanzstück einer Frauenfigur, Frank Wedekinds skandalöser femme fatale „Lulu“. Ihm gelingt damit ein ungemein spannendes Tanzdrama. Denn er gibt der 100-jährigen „Monstretragödie“, anders als vor rund zehn Jahren Christian Spuck in Stuttgart mit seiner genialen Chanson-Revue, ein aktuelles, überraschend schlüssiges Profil: die naive Straßengöre wird - von ihrem vermeintlichen Vater Schigolch (Erik Constantin) als Taschendiebin missbraucht - in den Händen intellektueller Männer zum Sexobjekt. Einen Hauch wirklicher Liebe vermag allein Gräfin Geschwitz (Agnès Girard) ihr zu geben. Eigenständigkeit und Lust am Leben verspürt diese Lulu nur kurze Zeit. Mehr Opfer als Täterin ist Paars Heroine, viel weniger Vamp denn bedauernswertes Wesen mit facettenreicher Seele, das schließlich hinter einem Bauzaun brutal von der Sexbestie Jack the Ripper (Tommaso Balbo) umgebracht wird.

Paar verteilt Lulu entsprechend ihren Lebensstationen und in Andeutung ihrer vielen „Gesichter“ auf vier Darstellerinnen: Maria Bayarri Pérez ist Dr. Schöns naive Ziehtochter. Mit gerollter Zeitung hebt der gestrenge „Dompteur“ (Adam Dembczynski) ihr das Kinn, schiebt „die Kleine“ aber schon bald an den mit Geldnoten um sich schmeißenden greisen Medizinalrat Dr. Goll (Tommaso Balbo) ab, der die junge Frau (Priscilla Fiuza) an den Aktfotografen (!) Schwarz (Keelan Whitmore) verliert. Der wiederum nimmt sich das Leben, als Lulu ihn mit Schöns Sohn Alwa (Jason Franklin) betrügt. Der Lebensuntüchtige kommt von der erotisch faszinierenden Frau (Elizabeth Towles) nicht los und begleitet die zur Hure Verkommene (Anna Caviezel), wie Schigolch und die Gräfin, ins Elend der Londoner Unterwelt.

Paar klagt die Gesellschaft als eigentlichen Verursacher dieser menschlichen Tragödie an. Mit flatternden Händen wie schnatternde Klatschmäuler und katzbuckelnd ist das bunt gemischte Volk fast omnipräsent, aber schaut tunlichst weg, wo die mutige helfende Hand nach dem Kind ausgestreckt werden müsste. Großartige Ensembleszenen, Pas de deux und Solos faszinieren gleichermaßen durch die überragende darstellerische Kraft der 14 Tänzer und dank Paars origineller Körpersprache, die jedem einzelnen durchaus Spielraum für eigene technische Prägungen lässt, was dem choreografischen Colorit sehr gut tut. Vier neue Mitglieder bereichern die Vielseitigkeit der Truppe: die ausdrucksstarke Elizabeth Towles, der absichtsvoll lethargische Jason Franklin, der hinreißend elegante, mit geschmeidigem neoklassischem Duktus tanzende Keelan Whitmore und die hochgewachsene, zarte Agnès Girard als zauberhaft jugendstilhafte lesbische Gräfin. Als glänzender Verwandlungskünstler erwies sich bei der Premiere Tommaso Balbo (Dr. Goll, Jack the Ripper). Ein grandios widerliches Konterfei verleiht der junge Holländer Erik Constantin dem kahlköpfigen, dickwanstigen Schigolch.

Kostüme und Requisiten von Kristopher Kempf auf der fast leeren Bühne unterstreichen Ambiente und Charaktere durchaus wirkungsvoll. Getanzt wird bis ganz vorn an die Rampe auf dem verdeckten Orchestergraben. Das fantastisch spielende Sinfonieorchester Münster unter Thorsten Schmid-Kapfenburg und Klaviervirtuosin Elda Laro sitzen auf der Hinterbühne und unterstreichen das weltstädtische Flair vor allem in den Berliner und Pariser Szenen. Die Musikwahl trägt maßgeblich zum sensationellen Gelingen dieses Tanzdramas bei. Kompositionen von Weill, Dessau und Ullmann sowie Filmmusik von Piere Oser charakterisieren Wedekinds Zeit, die Schattenseiten und Hektik, aber auch die unbekümmerte Frivolität der 1920er Jahre. Friedrich Cerhas „Impulse für Orchester“ bilden eine stimmige Referenz an den österreichischen Zeitgenossen, der Alban Bergs „Lulu“-Oper vollendete.

Paar überzeugt in Münster immer mehr durch die Bandbreite seines technischen Ausdrucks, insbesondere in seinen zeitgemäßen Interpretationen literarischer Stoffe. In seinen Choreografien ist nicht die eine, unverwechselbare „Handschrift“ zu erkennen, sondern er überrascht immer wieder durch neues Vokabular und entwickelt sich geradezu zum virtuosen Erzähler.
 

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