Bewegung als Metapher der Moderne

Symposium der Gesellschaft für Tanzforschung TANZ-RAUM-URBANITÄT

Vom 3. bis 5. Oktober 2014 lud die Gesellschaft für Tanzforschung, getreu ihrem Motto „Wir schaffen Begegnungen“ zum hochkarätigen Diskurs in die Berliner Kulturstätten Eden*****, Uferstudios und Kunstquartier Bethanien.

Berlin, 09/10/2014

Vom 3. bis 5. Oktober 2014 lud die Gesellschaft für Tanzforschung (GTF), getreu ihrem Motto „Wir schaffen Begegnungen“ als Mitglied und Partner des Dachverbandes Tanz Deutschland (DTD), zum hochkarätigen Diskurs über den Themenkomplex TANZ-RAUM-URBANITÄT in drei mehrfach historisch überformten Berliner Kulturstätten: Eden*****, Uferstudios und Kunstquartier Bethanien. Rund 150 Teilnehmer, darunter viele Studenten, verfolgten die interdisziplinäre und praxisorientierte Debatte in vierzig wissenschaftlichen Vorträgen, Videopräsentationen, Expertengesprächen, Lecture Performances, Installationen, erfahrungspraktischen Laboren und Workshops.

Was bedeuten Urbanität und urbaner Tanz? Welche Wirkung hat die Räumlichkeit auf die Tanzenden, welche auf die Betrachter? Welche neuen Räume sucht sich der Tanz im Medienzeitalter und warum? In ihrem Eröffnungsvortrag „Urbane Choreografien: Die Politiken des Tanzes in öffentlichen Räumen“ referierte Prof. Dr. Gabriele Klein (Universität Hamburg) wie Stadtmodelle den Bewegungsfluss prägen. „Die Stadt ist vielleicht das größte lebende Gesamtkunstwerk der Menschheit. Die Stadt ist eine performative Installation, in ihr bewegen sich Menschen.“ Die Soziologin hinterfragte, warum Menschen in einer bestimmten Weise zu einem bestimmten Zeitpunkt im öffentlichen Raum tanzen. Mit dem Zusammenbruch der Industriegesellschaft in den 70er Jahren (Krise der Stahl-Kohle und Autoindustrie) entstehen in der Brüchigkeit der Städte neue Konzepte öffentlicher Kunst: Pop-Art als Bruch(Break)-Erfahrung der jungen Generation, Punk als eruptive Bewegungspraxis. Im Kontext von digitalisierter Globalisierung ist das Urbane ein Lifestyle Muster (Mode, Musik, Tanz); das Urbane endet nicht mehr an den Stadtgrenzen. Einerseits existieren globalisierte Bilder von Tanz mit extremer Beschleunigung im Techno 240 Bits/Minute (Mainstream-Pop 65 Bits/Minute), andererseits gibt es Versuche durch künstlerisch politische Aktionen den urbanen Flow von Verkehr/Daten/Kapital zu unterbrechen (z.B. Globalisierter Frauenprotest „One Billion Rising“), wobei die genaue Kenntnis des sozialen Kontextes entscheidend für die Wirkung einer Performance im öffentlichen Raum ist.

Kann man über Tanz im öffentlichen Raum eine Gegenöffentlichkeit herstellen? Kristina Stein-Hinrichsen (Frankfurt/a.M.) analysierte globale Tanzprojekte, die eine Politisierung über die sich solidarisierende Gemeinschaft ermöglichen. Warum und unter welchen Bedingungen entfalten Flashmobs eine politische Kraft, werden sie als künstlerische und politische Intervention in urbanen Räumen erfahrbar? Dr. Heinz Schütz (München) ermöglichte in seinem anschaulichen Hauptvortrag „Urban Performance“ den historischen Rückblick auf die Happenings der 50er und 60er Jahre, deren radikale Geste der Negation und Überschreitung als primäre Selbsterfahrung einen antikapitalistischen Kern hatten. Diese inhaltlich-kritische Schärfe gilt es wieder frei zu legen. „Heute ist das Bild im Netz das Ziel der Performance; das ist Verrat an der ursprünglichen Idee. Wieso hat in Zeiten des permanenten Entertainments heute der Stadtbegriff den Gesellschaftsbegriff abgelöst? Die Stadt ist die Bühne, aber nicht alles ist Performance. Die Stadt sind die jeweils täglich neuen sozialen Interaktionen und Genderverhältnisse.“ Die strenge Normierung des öffentlichen Raumes gilt es vielfach durch kleine Interventionen zu stören. Die Geste des „Standing man“ (Gezi-Park Istanbul) - als Aktion für die Menschenrechte – wurde weltweit aufgegriffen. Immer gibt der konkrete Ort den Kontext unter wechselnden politischen Perspektiven. Von daher wäre zu fragen: Was ist Authentizität? Was ist Imitation? Die Besetzungen des öffentlichen Raumes (erstmals Emden/London 1995) sind heute total formal, inhaltslos. Die Gegenwart ist gekennzeichnet durch die Abwesenheit des Körpers und des Menschen im öffentlichen Raum; er ist da und löst sich gleichsam in der virtuellen Verkabelung auf – dem gegenüber steht das Extrem, z.B. den nackten Körper als provozierende 'Waffe' einzusetzen (Gruppe Femen).

Einen Eindruck ihrer engagierten Intervention und Irritationen im urbanen Stadtraum gaben vier Frauen vom Kollektiv Bauchladen Monopol (Hamburg/Berlin/Köln) in ihrer Lecture Performance „Darf man 2014 'in the rain' tanzen?

Wie die digitale Welt unsere Sinneswahrnehmung verändert vermittelten Mitglieder der interdisziplinären Forschungsgruppe „mbody“ (digitale Zwischenleiblichkeiten) um den Medienkünstler und Architekten Prof. Daniel Fetzner (Offenburg) und den Psychosomatiker und Philosophen Prof. Martin Dornberg (Freiburg).

Im Arbeitsgespräch mit Anja Kennedy (Global Water Dances), Dr. Ronit Land (Tanzraum als Heimat in Israel und Palästina), Dr. Okju Son (Raumwahrnehmung in der koreanischen Tanzmoderne und Niloufar Shahisavandi (Thirdspace: Dance undercover – Tanzszene in Teheran) wurden aus verschiedenen Perspektiven politische und kulturelle Dimensionen von TanzRäumen erörtert.

Über die Interaktion mit ihren lokalen Kiezen, über kulturelle Chancen und räumliche Konflikte, Partizipation und Entfremdung diskutierten auch der Geschäftsführer des Dachverbandes Tanz Deutschland Michael Freundt (Künstlerhaus Bethanien) mit Barbara Friedrich (Geschäftsführerin der Uferstudios) und Philip Horst, Vorstand des Zentrums für Kunst und Urbanistik, Moabit (Eden*****).

Dr. Sandra Chatterjee (Universität Salzburg) schärfte in ihren postkolonialen Fallstudien Fragen nach Tanz im transnationalen wie im lokalspezifischen Kontext. Indischer Tanz wurde erst im Rahmen des Unabhängigkeitsprozesses im postkolonialen Diskurs des 20. Jahrhunderts (und nicht vor Jahrhunderten) kodifiziert. In den großen Metropolen sind sehr verschiedene Ordnungssysteme in Bewegung, ein 'cross moving'. Aus der diasporischen Community heraus entwickeln sich so in Großbritannien und in den USA hybride Bewegungssprachen für biografische Inhalte. In Berlin hingegen bleibt das Fremde fremd, die interkulturelle Begegnung findet nicht statt. Das deutsche Interesse an Indien als Sehnsuchtsort ist ein romantisierendes. Die zeitgenössische Tanzszene in Delhi lebt hingegen stark von der interkulturellen Begegnung mit europäischen Tanzschaffenden.

Dr. Stephanie Schroedter (Freie Universität Berlin) warf mittels ikonographischer Darstellungen der Pariser Tanzkulturen (1830–1870) einen synchronisierenden Blick auf das Paris im 19. Jahrhundert als einem Stadtraum, in dem urbane Bewegungen und Klangräume Interaktionen mit dem Theater eingehen. Da die Pariser Ballsäle „heterotopische Stadträume“ bildeten, sind auch die Ballszenen der Opernaufführungen kein Divertissement – wie von der zeitgenössischen Tanzwissenschaft tradiert - sondern verfügen über ein „latent katastrophisches Potenzial“.

Monte Verità und die Neuentdeckung des Raumes (Juliette Villemin), Megafonchor-Public Address Systems als Choreografien politischer Versammlungen (Sylvi Kretzschmar), Wege der süditalienischen Tarantella vom ruralen in den urbanen Raum (Dr. Josephine Fenger), The Walk – Erkundungen städtischen Gehverhaltens (Martin Nachbar) und viele andere Beiträge formten die Komplexität des Symposiums als eine wichtige Offerte der Inspiration zum Weiterdenken und Ausprobieren.

Das neue GTF-Jahrbuch TANZ-RAUM-URBANITÄT erscheint 2015.
www.gtf-tanzforschung.de

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