„Sacre“ von Romeo Castelucci

„Sacre“ von Romeo Castelucci

Tanzender Knochenstaub

Romeo Castellucci eröffnet Ruhrtrinnale mit Nicht-Ballett

Den spannendsten Beitrag zum 100. Jubiläum der Pariser Uraufführung von Igor Strawinskys Ballettmusik zu „Le Sacre du Printemps“ setzt zweifellos nachträglich Romeo Castellucci, der die Musik zum Soundtrack umfunktioniert.

Duisburg, 16/08/2014

Den spannendsten Beitrag zum 100. Jubiläum der Pariser Uraufführung von Igor Strawinskys Ballettmusik zu „Le Sacre du Printemps“ setzt zweifellos nachträglich Romeo Castellucci, der die Musik zum Soundtrack umfunktioniert. Leider verpatzt der angehängte elektronische Klang-Einspieler als Abgesang auf die Produktion von Düngemittel aus Rinderknochenstaub die genial aktuelle Interpretation des musikalischen Jahrhundertwerks.

Er sei kein Choreograf, stellt Regisseur Romeo Castellucci im Interview auf dem Programmzettel für seine „Sacre“-Produktion klar. Mit dem heidnischen Märchen aus dem Russland einer mythologischen Vorzeit hat er ebenso wenig am Hut wie eigentlich auch Strawinsky, der sich bekanntlich über Nijinskys folkloristische Choreografie damals in Paris ziemlich ärgerte. Castellucci bedient sich der immens theatralen Partitur mit ihrer wuchtig facettenreichen Dynamik und schillernden Klangfarben, harsch motorischen Rhythmen und poetisch lyrischen Holzbläser-Passagen als Soundtrack für seine knapp einstündige filmische „Dokumentation“ der Fabrikation von Düngemittel aus tierischem Knochenstaub.

Der Aufführungsort ist ideal: die Gebläsehalle des Thyssen-Stahlwerks im Duisburger Norden mit ihren neoromanischen Rundbogenfenstern in der Backsteinfassade ist mit Maschinen, wuchtigen Rohrleitungen, noch aktiven Elektroturbogebläsen, Pumpenhaus und Kompressorenhalle ausgestattet. Hier wurde rund 50 Jahre handfest „produziert“. 2002 entstand ein multifunktionales Theater. Der industrielle Charakter blieb erhalten. Castellucci machte sich das Ambiente zunutze für seine bewegte Installation.

75 Rinder liefern drei Tonnen mehrfach gereinigten Düngemittels aus Knochenstaub. Die Kuh als „Opfer“ des Fruchtbarkeitsritus, der zum Fabrikprozess mutiert. 14 für die Inszenierung gebaute Maschinen bevölkern den hermetisch mit Stoffen, Plastikplanen und eine zur Zuschauertribüne hin transparente flexible Gummiwand isolierten Aktionsraum. Nach der zarten Holzbläserintroduktion treten sie in Aktion. Rote Lämpchen zeigen Daten und Uhrzeiten an. Aus Schlitzen spucken rechteckige Körper und länglich runde Behälter Staub in Schlangenlinien oder wie Kaskaden eines Wasserfalls.

Ein faszinierendes Lichtorgel-Spiel zwischen harscher Dramatik und lyrischer Poesie entspinnt sich, mal mit brutaler Gewalt, mal - wenn die runden Körper wie Kirchenglocken schwingen - alarmierend oder einfach als Rinnsal. Klang, Licht und Bewegung erinnern an die erste filmische Aufzeichnung von Wagners „Rheingold“, wirken unglaublich authentisch und gleichzeitig künstlerisch ästhetisch.

Man vergisst den „Plot“, der hier eigentlich erzählt werden soll, taucht ein in ein völlig vereinnahmendes, heutiges Sinnenerlebnis von so gewaltiger Wucht wie Naturereignisse einer Lawine oder eines reißenden Stroms nach einem Wolkenbruch. Immer wieder spiegelt sich die Zuschauertribüne in der transparenten Trennwand: wir sind mittendrin, unentrinnbar gefangen in dem Prozess. Zum Opfertanz der Auserwählten aber schließt sich der Vorhang. Projektionen auf den weißen Stoff erläutern den Prozess der Düngemittelgewinnung.

Fast unbemerkt geht Strawinskys Musik in ein elektronisches Wummern und Wabern mit nebulösen Männerchorvokalisen über. Der Vorhang öffnet sich wieder. Die Maschinen stehen nun still. Sieben Männer in Schutzanzügen schaufeln und fegen den Knochenstaub in zwei Kipploren. Einer sammelt übrig gebliebene Knochen in zwei Plastikkübel. Ähnlich verschwimmend, wie dieses industrielle Spektakel begann, endet es auch - bis schließlich die ersten Zuschauer sich von den Plätzen erheben und weggehen, andere noch artig oder verwirrt ein paar händevoll Applaus in den Raum schicken.
 

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