Der Komponist Tom Hodge
Der Komponist Tom Hodge

Wie man ein Ballett komponiert: Teil 1

Ein Blog über eine Komposition für das Ballett Thüringen

Die allererste Herausforderung war, dass das Ballett 80 Minuten lang werden sollte. In unserer aufregenden Zeit, wo 180 Gramm schwere Schallplatten wieder aufleben, käme diese Länge zwei vollen Alben gleich.

London, 10/04/2014

Von Tom Hodge (übersetzt von Isa Köhler)

Ich beende momentan die Komposition für ein Ballett. Es heißt „Waiting Room“. Die allererste Herausforderung war, dass das Ballett 80 Minuten lang werden sollte. In unserer aufregenden Zeit, wo 180 Gramm schwere Schallplatten wieder aufleben, käme diese Länge zwei vollen Alben gleich. Für den größten Teil eines ganzen Jahres schreibe ich nur daran, mit Blick auf eine ganz klare Deadline. Da war kein „komm, wir verschieben das Datum der Veröffentlichung, es ist noch nicht so reif“ oder „lass uns schauen, wo wir in ein paar Monaten sind“. Die Premiere ist seit langem für den 6. Juni 2014 gesetzt. Das bedeutet Orchesterproben im Mai, Ballettproben beginnen im April und eine Choreografie für 20 Tänzer über die Dauer von 80 Minuten muss kreiert werden... also jetzt.

Wie denkt man sich also eine solche Menge Ballettmusik aus? Was kommt zuerst, das tanzende Huhn oder das musizierende Ei? Viele Menschen haben mich gefragt, ob man den Tanz in seiner Vorstellung sieht. Und bis zu einem gewissen Grad würde ich bejahen, dass es so sein sollte – nicht in der Art, wie ein Choreograf es machen würde – aber als Musiker, der zumindest etwas von Rhythmus versteht, und dies besonders dann, wenn die Aktion auf der Bühne einen bestimmten Puls benötigt.

Ein Schritt nach links und bis drei zählen, ein Schritt nach rechts und bis drei zählen, zurück nach links und bis drei zählen, und dann weiter nach rechts und bis ZWEI zählen. Was sich daraus ergibt, ist eine sehr einfache visuelle Darstellung eines leicht ins Wanken gebrachten Walzers in elf. Versuche es Zuhause. Ich habe viele freudige Minuten damit verbracht mich walzertanzend durch mein Studio zu bewegen. Die Choreografie wird natürlich keineswegs so aussehen, aber in meiner Vorstellung kreierte dies ein schlichtes musikalisches Konzept, aus dem ich mehrere Minuten komponieren konnte. Was nur noch 78 Minuten verbleiben ließ, die es umzusetzen galt...

Ich habe neulich ein Interview mit Max Cooper gelesen, mit dem ich erst kürzlich für die EP Fragmented Self zusammengearbeitet habe. Er hat gerade sein Debütalbum „Human“ veröffentlicht und wies darauf hin, wie unvermeidlich gelegentlich Zeiten sind, bei denen wir auf dem Weg zur Fertigstellung unzulängliche Ideen von Bord werfen müssen. Das ist natürlich absolut korrekt. Ich denke nahezu jeder Komponist, außer vielleicht Mozart, würde zustimmen. Aber bei 80 Minuten, die zu schreiben sind und mit einer strengen Deadline vor Augen, ist das eine beängstigende Aussicht. Heißt, du musst deine „Kreativität“ selbst redigieren, und zwar genauso schonungslos, wie du es bei einem 30-sekündigen Werbespot machen würdest – was nebenbei bemerkt die Länge meiner ersten Auftragsarbeit war, ein Radiowerbespot für eBookers.

Dieses Ballett ist also so lang wie 160 eBookers Werbespots in einer Reihe. Zumindest fast. Da ist noch eine andere Größenordnung zu beachten. Ich habe zwei Instrumente benutzt für diese erste große Auftragsarbeit des ebookers Spots. (30 Sekunden schienen damals eine recht große Menge zu schreibender Musik zu sein, was sich als guter Wink aus der Vergangenheit erwies, dass das Leben immer eine Frage der Perspektive ist.) Meine Ballettkomposition dagegen ist für 15 Geigen, sechs Bratschen, fünf Celli, vier Kontrabässe, vier Hörner, zwei Posaunen, Bassposaune, Tuba, zwei Trompeten, zwei Fagotte, zwei Kontrafagotte, zwei Klarinetten, zwei Querflöten, Piccoloflöte, zwei Oboen und Englischhorn, Pauken und viele verschiedene Schlaginstrumente – alles potenziell Massenvernichtungsmittel in der Hand eines Komponisten. Um etwas mehr Textur hinzuzufügen, entschied ich mich dann noch einen Computer beizusteuern, der live aus dem Orchestergraben gespielt wird. Ein unterbrochenes Orchester wäre dies quasi.

Werke in dieser Größenordnung werden selten an „junge und aufstrebende“ Komponisten in Auftrag gegeben. Sie sind für die Titanen reserviert – Adams, Reich, Adés, Golijov, füge deinen Lieblingskomponisten hier ein... (Obwohl ich sehr empfehle einen Blick auf Atomos zu werfen – die Kollaboration der Band „A Winged Victory For The Sullen“ mit dem Choreografen Wayne McGregor.) Es braucht also eine visionäre Ballettdirektorin, Silvana Schröder, die mit einem Vertrauensvorschuss wagt, einen ganzen Ballettabend in Auftrag zu geben. Ich schätze mich sehr glücklich. (Da war diese kleine Sache alle kreativen Gespräche auf Deutsch zu führen, aber man springt letztendlich einfach in die Tiefe und lernt zu schwimmen.)

Nun ist also nächste Woche die Abgabe der Partitur (insgesamt 245 Seiten) in Thüringen und es stehen einige Workshops mit den Tänzern an. Ich bin mir sicher, der zuvor erwähnte Walzer in elf wird ein heißes Thema.

Erstmals veröffentlicht am 18.3.2014 online bei Huffington Post / Huffpost Culture Großbritannien unter dem Titel: „How to Write a Ballet: Part One“
 

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