„Cinderella“ von Goyo Montero. Tanz: Sayaka Kado und Carlos Lázaro 

„Cinderella“ von Goyo Montero. Tanz: Sayaka Kado und Carlos Lázaro 

Musikalischer Hörgenuss und brachiale Bildgewalten

Der Nürnberger Ballettchef Goyo Montero setzt den beliebten Ballettklassiker und Märchenstoff in neuem Outfit und mit dramaturgischer Raffinesse um

Anhand des Märchens zeichnet Choreograf Montero ein unverblümtes Bild der Menschheit.

Nürnberg, 24/12/2013

Dass der populäre und vieladaptierte Märchenstoff der Gebrüder Grimm in Zeiten von Pflegereform, Patchworkfamilien und Prunksucht nach wie vor psychologische Brisanz birgt, kehrt auch Chefchoreograf Goyo Montero in seiner „Cinderella“-Premiere kurz vor Weihnachten am Staatstheater Nürnberg hervor. Gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Verena Hemmerlein hat Montero ein raffiniertes Bühnenbildkonzept entwickelt, das die narrativen Ebenen − Realität, Traumebene sowie Innenleben der Figuren − klar herausstellt. Zudem führt er in seiner Ballett-Adaption mit aller Drastik, dramaturgischer und doch auch drolliger Raffinesse vor Augen, wie grausam die Menschheit doch sein kann und wie sehr es sich lohnt, an das Gute im Menschen zu glauben und für seine rechtmäßigen Bedürfnisse einzustehen.

Gleich im Epilog greift Montero in seine Erzähl-Trickkiste: In sekundenschnellen Drama-Flashbacks und teils durch expressives Maskenspiel wird der Zuschauer gleich in den Bann gezogen: Ein junges Familienglück findet mit dem Tod der Mutter ein jähes Ende, der Vater wird durch sein neues Eheglück hinterrücks zu Fall gebracht, so dass sich die Rollen in der neuen Patchwork-Familie klar in Herrschende und Missachtete unterscheiden. Zu letzteren gehören der nun im Rollstuhl sitzende Vater (José Hurtado) und Aschenputtel (Sayaka Kado), die dem Gebrechlichen so herrlich anzusehende Glücksmomente bescheren kann, dass es einem das Wasser in die Augen treibt. Überhaupt hat die gebürtige Japanerin vollen Respekt verdient: Ihr atemraubender Körpereinsatz, ihre extremen Verrenkungsspiele, wenn sie wie ein Tier ihren (Spiel-)Trieben zu folgen scheint und dann wieder ihre kindliche Naivität und Freude an der Welt ins Publikum hinaus strahlt, machen sie zu einer exzellenten Tänzerin.

Die Rollen der Stiefschwestern und die der bösen Stiefmutter besetzt Montero mit Männern. Dies geht über eine Hommage an das klassische Ballett hinaus – es wirkt verstärkend auf die Figurencharakterisierung und die menschlichen Konflikte gleichermaßen. Ihr parodistisch überzogenes wie auch ihr egozentrisch, kokettierendes Verhalten macht die beiden Stiefschwestern – Saúl Vega und Oscar Alonso als Drag-Queens – zu gelungenen Stellvertretern des derzeit grassierenden Selfie-Wahnsinns. Und auch Carlos Lázaro potenziert in der Rolle der bösen Mutter durchweg ablehnungswürdige Eigenschaften wie Machtgier, Ekel, Hinterlist und Sadismus. Sie kettet, peitscht und schleudert Aschenputtel durch die Luft: Kostümdesigner Angelo Alberto hat Sayaka Kado hierzu ein Korsett aus Schlaufen und Ösen verpasst.

Montero choreografiert nah an den musikalischen Vorgaben von Sergej Prokofjew samt ihren heiter-grotesken Stimmungen, Verzierungen und Höhepunkten, während die Musiker der Staatsphilharmonie Nürnberg unter der Leitung von Gábor Káli ihrerseits mit Hingebung für Gänsehauteffekte sorgen. Und auch dass Montero gemeinsam mit Lichtdesigner Olaf Lundt, der für fast dreihundert verschiedene Lichteinstellungen verantwortlich zeichnet, ein auf die Choreografie abgestimmtes und nicht minder ausgeklügeltes Lichtkonzept erarbeitet hat, wird schnell ersichtlich.

Montero verzichtet in seiner Märchenadaption zwar auf Cinderellas verlorenen Schuh – in vielen Adaptionen ein tragendes Symbol romantischer Liebe − doch nicht auf die Tauben. Das Ballettensemble des Staatstheaters Nürnberg überzeugt als homogener, staubaufwirbelnder Gefiederschwarm, der das verstoßene Mädchen bei seinen ersten Schritten als freier Mensch begleitet. Im zweiten Teil dagegen scheint sich das Ensemble in unstrukturiert wirkenden Ballsaalsequenzen zu verlieren. Inmitten des farbig-barocken Kostümgewusels versucht eine etwas blass gezeichnete, mehr spielende denn tanzende Prinzenfigur (Max Zacchrison) sich gegen Reglements und Zeremoniell durchzusetzen. Für Cinderella und den Prinzen gibt es – wie auch nicht anders zu erwarten – ein Happy End, doch wirken die Liebesbekundungen des Märchenpaares redundant, das Bewegungsrepertoire und der dramaturgische Ideenreichtum Goyo Monteros ein wenig erschöpft. Sehenswert ist die Nürnberger Inszenierung aufgrund der vermittelten emotionalen Dichte und der brachialen Bildgewalt aber allemal!
 

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