„Weihnachtsoratorium“ von John Neumeier. Tanz: Anna Laudere

„Weihnachtsoratorium“ von John Neumeier. Tanz: Anna Laudere

Jauchzet, frohlocket über dieses Werk

John Neumeier vollendet seine Choreografie zu Bachs „Weihnachtsoratorium“ mit den Kantaten IV-VI

Der erste Teil mit den Kantaten I-III ist schon seit der Premiere 2007 ein großer Erfolg, jetzt choreografierte der Hamburger Ballettintendant die noch fehlenden Teile und fügte alles zu einem stimmigen Ganzen.

Hamburg, 10/12/2013

Wie bei seinen anderen sakralen Balletten („Messias“ von Händel, „Requiem“ von Mozart, „Magnificat“ und „Matthäus-Passion“ von Bach) kommt es Neumeier, wie er in der „Ballettwerkstatt“ zwei Wochen vor der Premiere erklärte, auch beim „Weihnachtsoratorium“ nicht darauf an, „etwas Mysteriöses zu suggerieren“. Ausschlaggebend sei vielmehr Bachs für den Tanz so sehr geeignete Musik. Über die Texte in den Arien könne man meditieren und nachdenken. Im Tanz gehe es dann aber darum, was der Betrachter für sich selbst in den Bewegungen der Tänzer und in der Musik erkenne. So entstehe auch seine Choreografie: aus dem Geist der Musik heraus und dem, was bei ihm im Hören innerlich aufkeimt.

Während Teil 1, den Neumeier weitgehend in der Fassung von 2007 belässt und lediglich den Schluss verändert, vor allem die Geburt Christi erzählt, geht es in Teil 2 um die Zeit nach Neujahr. Deshalb ertönten nach der Pause zwölf Glockenschläge, und es wird mit Luftschlangen und Tröten Silvester gefeiert. Wieder stehen Maria und Josef, die Engel, ein Hirte und ein auf Wanderschaft befindliches Volk im Mittelpunkt des Geschehens. Leitbild ist der Stern über Bethlehem, Symbol der Hoffnung für alles, was Menschen seit jeher bewegt: Vertrauen, Zuversicht, Glaube, Hingabe, Liebe, aber auch Hass, Selbstsucht, Zweifel.

Neumeier entwickelt in diesem zweiten Teil ein erfrischend vielfältiges, raffiniertes Bewegungsvokabular und erweist sich einmal mehr als Meister der „großen Form“. Wie er hier die großen Gruppenszenen in der Fußarbeit ausziseliert, die Ensembles zu variantenreichen Mustern stellt und ihnen dabei ein Höchstmaß an Konzentration abfordert, das ist ganz große Choreografierkunst. Wer außer ihm traut sich noch an solche Szenen heran, in denen mehr als 40 Tänzer gleichzeitig in wohlsortierter Ordnung über die Bühne wirbeln, ohne dass es je langweilig wird? Da folgt eine kreative Salve auf die nächste, und man kommt kaum hinterher mit dem Schauen.

Und natürlich geht es in beiden Teilen vor allem um Gefühle. Gefühle, die eine blutjunge Frau wie Maria bewegen, wenn sie unverheiratet schwanger ist und von einem Erzengel erfährt, dass sie Gottes Sohn zur Welt bringen soll. Wenn ihr gesagt wird, dass dieser Sohn früh sterben wird, um die Menschen zu erlösen. Wenn sie weiß, dass sie ihr Kind unterwegs unter widrigsten Bedingungen gebären wird, weil alle zur Volkszählung nach Bethlehem beordert sind. Wenn sie erlebt, wie ihr Neugeborenes beschnitten wird, wie es nun einmal Tradition ist, und zum ersten Mal das Blut Christi fließt – eine Vorahnung für das, was später noch kommen wird. Oder wenn sie fliehen muss vor den Häschern des Herodes. Es sind auch die Gefühle des Joseph, der sich fragt, wie er dieses Kind empfangen soll, es ist ja nicht von ihm? Und der Maria trotzdem beschützt und trägt und sie damit vor der Steinigung rettet, der sie sonst unweigerlich ausgesetzt gewesen wäre.

Wie schwierig es ist, diese Gefühle adäquat in sich wachzurufen und im Tanz zu vermitteln, wird bei Anna Laudere deutlich. Ihre Maria ist in erster Linie eine einsame Frau voller Angst, Leid und Entsetzen. Zu dieser Figur gehören aber auch tiefe Freude, innige Liebe, Selbstvertrauen, Demut und Hingabe. Nur sehr selten scheint bei Anna Laudere etwas davon auf (zum Beispiel in der „Echo“-Arie in Teil 2). Völlig unvermittelt knipst sie in Teil 2 nach der Beschneidung Christi plötzlich ein Lächeln an, um dann wiederum aufs Höchste verängstigt die Flucht vor Herodes anzutreten. Das ist in der Entwicklung nicht so recht nachvollziehbar und bleibt leider weitgehend schablonenhaft – was umso bedauerlicher ist, als Laudere ihren Part tänzerisch durchaus schön zeichnet und eine feine Linie zeigt. Als Joseph bleibt auch Edvin Revazov relativ blass. Und einmal mehr wird deutlich, dass gerade die großen Charakterrollen bei Neumeier von innen heraus getanzt werden müssen – man darf sie nicht schauspielern, sondern muss sie in sich fühlen, um sie wirklich auszufüllen.

Alexandr Trusch und Silvia Azzoni als strahlende Engel machen vor, wie das geht: sie zeigen sowohl in Ausdruck wie Technik feinste Tanzkunst – das ist Genuss pur. Völlig verdient beförderte Neumeier Sascha Trusch noch am Premierenabend zum Ersten Solisten. Aleix Martinez, bisher Gruppentänzer, avancierte ebenso verdient zum Solisten. Schon seit langem besticht der Katalane mit hoher Musikalität und Präzision.

Und dann ist da natürlich Lloyd Riggins als „ein Mann“, der als Leitfigur durch das Stück zieht – es erfordert eine große innere Stärke, diese Figur innerlich auszufüllen. Aber wer, wenn nicht Riggins, wäre dazu so zurückhaltend-souverän in der Lage? Aus gesammelter Stille heraus entwickelt er die Freude der Menschheit über die Geburt des Erlösers, wenn er am Schluss vor Tanzeslust geradezu explodiert.

Ganz großes Kino sind die drei Weisen aus dem Morgenlande: Marc Jubete, Sasha Riva und Thomas Stuhrmann (mit Sonnenbrille!), in langen Beinkleidern in Grün, Rot und Blau, denen Neumeier wunderbare, von jedem Kitsch entschlackte Tanzkompositionen auf die wohlgeformten Körper choreografiert hat. Ihr Auftritt ist einer der Höhepunkte des zweiten Teils. Desgleichen ein ebenso kurzes wie furioses Solo für eine der großen Nachwuchshoffnungen im Corps de Ballet: Christopher Evans, der seine Chance phänomenal zu nutzen verstand. Carsten Jung als „Hirte“ vermittelt eine Ahnung des späteren Christus, indem er seinen Part angenehm unaufgeregt und in sich ruhend ausfüllt.

Eine der größten Überraschungen ist jedoch Dario Franconi als König Herodes, den Neumeier als Tanguero (!) gestaltet und damit dem Naturell des aus Argentinien stammenden Franconi sehr entgegenkommt. Dieser Herodes ist ebenso elegant wie fies, so schmierig-hinterhältig wie selbstverliebt. Und er beweist, dass man selbst zu Bach argentinischen Tango tanzen kann! Genial.

Winnie Dias, Mayo Arii und Lennart Radtke sind schöne Echos, voller Dynamik und Freude – am Tanz ebenso wie an der Ankunft des rettenden Gottessohns. Zwei Paare – Yuka Oishi und Silvano Ballone sowie Leslie Heylmann und Lennart Radtke führen zusammen mit Lucia Rios die Kompanie an, und alle zusammen meistern sie die Herausforderungen der temporeichen Ensembles mit Bravour.

Ferdinand Wögerbauer hat für den zweiten Teil wie schon für den ersten ein ebenso schlichtes wie stimmiges Bühnenbild geschaffen. Und Alessandro De Marchi am Pult sorgt gekonnt dafür, dass die Philharmoniker die für sie ungewohnte Musik mit Verve und sehr hohem Tempo zelebrieren. Unter den Gesangssolisten sticht der samtweiche, volltönende Alt von Katja Piewek hervor, während Christoph Genz als Evangelist seiner Aufgabe nicht gerecht zu werden vermag. Mélissa Petit (Sopran), Manuel Günther (Tenor) und Wilhelm Schwinghammer (Bass) singen ihre Rollen sehr ordentlich, haben aber manchmal Mühe, mit dem forcierten Tempo des Maestros im Graben Schritt zu halten. Großartig dagegen der Chor der Staatsoper Hamburg, den Eberhard Friedrich mit sicherer Hand auf seine Aufgabe eingestimmt hatte.

Das Publikum feierte alle Beteiligten, aber vor allem den Choreografen, mit großem Jubel und standing ovations.

Die noch folgenden Vorstellungen im Dezember und am 1. Januar sind bereits komplett ausverkauft.
 

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