„Sleepwalker“ von Tarek Assam und Paul Julius. Tanz:Crook, Schumicky, Ruof, Krautwurst, Hladcka, Pisa

„Sleepwalker“ von Tarek Assam und Paul Julius. Tanz:Crook, Schumicky, Ruof, Krautwurst, Hladcka, Pisa

Tanzcompagnie Gießen traumwandlerisch

„Sleepwalker“ von Tarek Assam und Paul Julius

Zu Beginn der dunklen Jahreszeit wählte Tarek Assam ein Thema aus den unzugänglichen Sphären des menschlichen Individuums: das Schlafwandeln.

Gießen, 11/11/2013

Die aktuelle Premiere der Tanzcompagnie Gießen (TCG) beschäftigte sich mit dem ungewöhnlichen Thema „Sleepwalker“. Auf der Studiobühne im Theater im Löbershof wurde wieder mal Experimentelles gewagte, wie bei diesen Gelegenheiten üblich tanzte die Hälfte der Tanzcompagnie Gießen. Und wieder hatte Ballettdirektor Tarek Assam einen Gastchoreografen eingeladen, mit ihm gemeinsam aus einer Idee ein Tanzstück zu entwickeln. Dafür konnte Paul Julius aus Leipzig gewonnen werden, der an Pfingsten mit seiner freien Gruppe „Julius Art Project“ (J.A.P.) bei der TanzArt ostwest in Gießen zu Gast war.

Paul Julius hat in neoklassischen Ensembles getanzt und ist seit 2005 als freier Choreograf unterwegs in Deutschland, hat auch für das New York City Ballet kreiert. Einer, der es gewohnt ist für große Kompanien auch abendfüllende Ballette zu erarbeiten, lässt sich auf das Experiment einer gemeinsamen choreografischen Arbeit für eine kleine Bühne ein. Warum? Er war neugierig wie so was funktionieren kann, erzählte er im Vorfeld, und es machte ihm Spaß mit einer so offenen Gruppe zu arbeiten wie es die TCG ist. Und dem Premierenpublikum hat das Ergebnis auch Spaß gemacht wie der begeisterte Applaus zeigte.

Die letzte Gießener Studioproduktion war „Siddharta“ im Frühjahr, gemeinsam mit dem in München lebenden Mirko Hecktor erarbeitet. Dabei ging um eine jugendlich suchende Welt, nun zu Beginn der dunklen Jahreszeit wählte Assam ein Thema aus den unzugänglichen Sphären des menschlichen Individuums: das Schlafwandeln. In früheren Zeiten wurde dies auf den Einfluss des Mondes zurückgeführt, mittlerweile weiß die Wissenschaft, dass es in der Kindheit normal ist schlafzuwandeln. Erst im Erwachsenenalter wird es zum Krankheitsbild. Im Schlaf verarbeiten wir persönliches Tagesgeschehen, unsere Träume spiegeln Sorgen und Ängste, lassen Erinnerungen an Kindheitserlebnisse wieder hochkommen, schöne wie hässliche, vor allem folgen sie einer eigenen Logik.

Das Bild, das sich für uns alle damit verbindet, ist der/die Schlafwandelnde im weißen Nachthemd auf dem Dachfirst. Man darf die Person nicht ansprechen und wecken, dann könnte sie abstürzen und sich verletzen. Also belassen wir sie im Zustand der sprichwörtlichen „schlafwandlerischen Sicherheit“ und schauen zu, was sonst noch zwischen Tag und Traum passieren kann.

Die drei Tänzerinnen (Caitlin-Rae Crook, Lea Hladka, Jennifer Ruof ) und drei Tänzer (Sven Krautwurst, Claudio Pisa, Endré Schumicky) zeigen unglaublichen Körpereinsatz und ein beeindruckendes tänzerisches Niveau. Zu Beginn sind sie komplett schwarz gekleidet, stehen als Gruppe zusammen, atmen laut unter Einsatz ihrer Arme, sie schwanken leicht, sinken mit weichen Bewegungen zu Boden. Oft tanzen sie mit (fast) geschlossenen Augen, doch auf ihre Augenlider sind weit geöffnete Pupillen gemalt, daher starren sie das Publikum immer an. Ein befremdlicher Effekt, den vor allem die blonde Caitlin-Rae Crook in ihrem Solo als selbstverliebte Prinzessin gekonnt umsetzt.

Ein Dachfirst ist angedeutet im Bühnenbild (Imme Kachel), auf dem das Wandeln jedoch auf allen Vieren stattfinden muss, weil das TiL eine zu geringe Deckenhöhe. Das wird spätestens Anfang 2014 auf der neuen Studiobühne anders werden. Matratzen gibt es auf der seitlichen Schrägebene zum ruhigen Liegen und darauf Herumwirbeln, auch zum sportlichen Wettbewerb. An der Rückwand sind sie fest angebracht für ein verletzungsfreies Dagegenlaufen oder Herunterrutschen wie an einer Dachrinne.

Die Musikauswahl sorgt zusammen mit dem oft punktuellen, immer grellweißen Licht für die Atmosphärenwechsel, die von leicht und beschwingt bis unheimlich und beängstigend reichen. Es gibt viel rhythmisches Wummern und unbestimmtes Wabern, treibende Geigen, massive E-Gitarren- und perlende Klavierläufe, auch mal Gesang. Kindheitserinnerungen werden bedient in Gestalt eines großen Teddybären (Schumicky), der zum Kuscheln und Streicheln einlädt, dann aber auch die härtere Seite des Schmusens zeigt, indem er eine Tänzerin (Ruof) lockt und zu anderem zwingen will. Ein wilder Kampf, bei dem dennoch das Abgleiten ins Unappetitliche vermieden wird. Tänzerisch gibt es beeindruckende Soli (Krautwurst), zauberhafte Duette (Hladcka und Pisa) und elegante Ensemblechoreografien. Einen besonderen ästhetischen Genuss bietet das männliche Trio mit freiem Oberkörper gegen Ende des ungemein dichten, einstündigen Tanzstücks.

Weitere Vorstellungen: 15./29. November, 14./ 28. Dezember 2013, 20.00 Uhr
 

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