John Neumeier bei der Moderation Ballett-Werkstatt
John Neumeier bei der Moderation Ballett-Werkstatt

Vielversprechendes Potential

Ballett-Werkstatt und Rollendebuts zeugen von vielfältigen Talenten im Hamburg Ballett

Der Hamburger Ballettnachwuchs bescherte tanznetz.de-Korrespondentin Annette Bopp einen kunstgenussvollen Sonntagabend.

Hamburg, 08/10/2013

Es ist eine schöne Tradition, dass eine der vier Ballett-Werkstätten der Saison (meistens die erste) dem Nachwuchs gehört: zu Beginn der Spielzeit dürfen alle Tänzerinnen und Tänzer ihrem Chef John Neumeier einen Wunschzettel auf den Tisch legen mit Rollen, die sie gerne einmal ausprobieren würden. Diese Experimente werden dann im Rahmen der Ballett-Werkstatt präsentiert. Immer wieder sind hier gerade die GruppentänzerInnen für eine Überraschung gut. So auch jetzt bei der ersten Ballett-Werkstatt der jetzigen Spielzeit, die am Sonntag über die Bühne ging und den Abend mit einbezog. Denn auch bei dieser Vorstellung gab es zahllose Rollendebuts.

Die Höhepunkte der Werkstatt markierten Gruppentänzer und Aspiranten, die sich teilweise höchst anspruchsvolle Rollen ausgesucht hatten. Emanuel Amuchastegui brillierte in einem Ausschnitt aus dem großen Solo des Joseph aus „Josephs Legende“, dessen Schwierigkeiten er blitzsauber und mit unwiderstehlichem Charme meisterte. Das Zeug zum Publikumsliebling hat auch Aspirantin Emilie Mazon, die in einem Solo der Marie aus „Nussknacker“ nicht nur wunderschöne Balancen und eine große Sicherheit bei jedem Schritt zeigte, sondern auch mit ihrer Frische und Natürlichkeit die Herzen der Zuschauer im Sturm eroberte. Da ist unschwer erkennbar: Hier tanzt eine ganz große Zukunft heran.

Sophie Vergères hatte sich das schwierige „Deposuit potentes“ aus dem lange nicht gezeigten „Magnificat“ von John Neumeier gewünscht – eine bei aller Kürze höchst anspruchsvolle Rolle, die sie souverän ausfüllte. Dario Franconi überraschte als ungewohnt ausdrucksstarker Liliom und lieferte damit einen Vorgeschmack auf den kommenden Sonnabend, wo er erstmals die Hauptrolle in diesem Werk übernehmen wird.

Vor einer besonders großen Herausforderung steht Lennart Radtke, der den verletzten Thiago Bordin am 13. Oktober als Romeo in Neumeiers „Romeo und Julia“ ersetzt. Aus der Gruppe sofort in eine so große Rolle katapultiert zu werden – das verlangt schon einiges. Dass der 24-Jährige das Zeug dazu hat, zeigte er im Balkonszenen-Pas de Deux mit Hélène Bouchet als Julia. Auf dieses Rollendebut am Sonntag dürfen sich die Zuschauer freuen (bis auf wenige Restkarten ist die Vorstellung allerdings bereits ausverkauft).

Etwas sehr Spezielles hatten sich drei Gruppentänzerinnen gewünscht: den Pas de Trois „Blute nur, du liebes Herz“ aus der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier, ein Stück, das normalerweise von erfahrenen Solistinnen getanzt wird. Wie sehr es aber auch zu jungen Tänzerinnen passt, zeigten Yaiza Coll, Hayley Page und ganz besonders Hannah Coates. Innerhalb der Passion spiegelt diese nur knapp fünf Minuten lange Sopranarie den Moment, als Judas dem Hohen Jüdischen Rat den Verrat Jesu’ angeboten hatte: „Blute nur, du liebes Herz – ach, ein Kind, das du erzogen, das an deiner Brust gesogen, droht den Pfleger zu ermorden, denn es ist zur Schlange worden.“ Wie die drei Tänzerinnen diese Situation in Tanz umsetzten, mit einer packenden Dynamik und gleichzeitig all der Demut, aber auch der Verzweiflung, die diesem Moment innewohnt, das war ein ganz großes Glanzlicht an diesem Sonntagvormittag.

Und noch ein Highlight gab es zu bestaunen: Sasha Rivas jüngste Eigenkreation „Freedom“, die er zusammen mit Aleix Martinez an diesem Sonntag erstmals dem Hamburger Publikum präsentierte. Im ersten Teil bewegen sich die beiden in der Größe so unterschiedlichen, im Ausdruck aber völlig ebenbürtigen Tänzer weniger zu Musik, als zu der vierminütigen großen Rede aus Charlie Chaplin’s Hitler-Satire „Der große Diktator“. Diese Rede ist ein flammendes Plädoyer für Humanität, Freiheit, Menschenwürde, Frieden – und in ihrer dezidierten Aussage aktueller denn je. Sascha Riva und Aleix Martinez setzen diese Inhalte auf eindrucksvolle Weise in Bewegung um – vor allem im zweiten Teil, der vom Adagio aus Beethovens Mondschein-Sonate getragen wird. Das war choreographisch, tänzerisch und darstellerisch exquisit. „Ich fühle mich ungeheuer reich, was ich für Schätze in dieser Kompanie habe“, sagte John Neumeier anschließend und zog damit das passende Resümée dieser Debut-Werkstatt.

Der Abend mit „Préludes CV“ legte in Sachen Rollendebuts noch einen Schlag zu. Die junge Chinesin Xue Lin, seit 2011 im Hamburg Ballett, gab eine gestochen scharfe, aber auch poetisch-zarte Silvia, der erst 19-jährige hochtalentierte Christopher Evans einen ebenso stürmischen wie brillanten Sascha. Die Koreanerin Yun-Su Park als Laura lieferte sich mit Thomas Stuhrmann als Carsten ein großartiges Beziehungs-Duell, das an Intensität kaum zu überbieten war. Miljana Vracaric bot eine zum Hinschmelzen schöne, weibliche Anna, Winnie Dias eine melancholisch-reife Elizabeth.

Ein gelungener Abend, der musikalisch noch gekrönt wurde durch das Gastspiel von Anton Barachovsky an der Violine, in kongenialer Virtuosität Ani Aznavoorian am Cello, Angela Yoffe und Komponistin Lera Auerbach am Klavier. Kurzum: Von früh bis spät ein kunstgenussvoller Sonntag.

 

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