„Judson Church is Ringing in Harlem (Made-to-Measure) / Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (M2M)“ von Trajal Harrell. Tanz: Thibault Lac, Trajal Harrell und Rob Fordeyn

„Judson Church is Ringing in Harlem (Made-to-Measure) / Twenty Looks or Paris is Burning at The Judson Church (M2M)“ von Trajal Harrell. Tanz: Thibault Lac, Trajal Harrell und Rob Fordeyn

Freundlicher Rückblick, verhaltener Ausblick und eine Überraschung

25 Jahre Tanz im August in Berlin

tanznetz.de-Korrespondent Boris Michael Gruhl berichtet ausführlich von der Eröffnung des Berliner Festivals.

Berlin, 19/08/2013

Es sollte ein programmatischer Beginn des einstmals bedeutendsten deutschen Tanzfestivals werden. Also zwei amerikanische Ikonen des sogenannten postmodernen Tanzes, deren Wirkungen wahrscheinlich vor 25 Jahren auch nicht von so entscheidender Bedeutung hätte gewesen sein können, wie sie im verklärenden, leicht gerührten Rückblick jetzt erscheinen sollen.

Zufall oder Absicht, es beginnt im Museum, in einem lichtdurchfluteten Raum des Hamburger Bahnhofs. Die Trisha Brown Dance Company zelebriert zehn besinnliche Miniaturen aus dem Poesiealbum der 70er Jahre. Die Gleichberechtigung geht für die männlichen und weiblichen Akteure so weit, dass schon allein die weiße Kleidung alle ähnlich und letztlich konturlos erscheinen lässt. Dann eine Abfolge unter dem Titel „Early Works“ bei unterschiedlichen Raumkonstellationen. Das Publikum wandert, was schon allein einen erheblichen Anteil der Aktivität dieser Stunde im August bedeutet.

Ob nun die Mitglieder der Kompanie mit Holzstäben Konzentrationsbalancen ausführen, ob sie parallel die Wände befühlen, oder auch zu einem von Bob Dylan gesungenen Song die typischen Minimalbewegungen der Meisterin, Daumen, vor, zurück, leichte Hüfte usw. zelebrieren, zum Abschluss wie schon einstmals im August, in Berlin, damals im Hebbel-Theater, spanisch gemeinte Bewegungen voneinander abnehmen, dabei aneinander wippen und voran drängen, bis die undurchtanzbare Materialität einer Wand Einhalt gebietet, viel mehr als der Charme eines Workshops mit Raum- und Vertrauensübungen will sich nicht einstellen. Klingt natürlich besser, wenn man von „komplexen Strukturen“ spricht, „die den Körper als kinetische Skulptur im Raum begreifen.“

Weiter geht es, wieder programmatisch, wieder historisch aber nicht mehr ganz so museal: Steve Paxton hat sein Solo „Bound“ von 1982 mit dem jungen Tänzer Jurij Konjar einstudiert. Das verfehlt seine Wirkung nicht, selbst wenn Konjar wirklich alles so machen sollte wie einst Paxton; er ist weit entfernt von der Kopie und völlig frei vom missionarischen Gehabe der Brown Kompanie. Paxtons Solo erscheint wie die absurde Reise eines jungen Mannes auf der Suche nach sich selbst. Er möchte sich etwas zusammenzimmern, doch vier Bretter ergeben bestenfalls eine Kreuzung oder zwei Kreuze. Er möchte Erinnerungen beschwören, Rudimente aus der Ferne, Schaukelstuhl und Kinderwiege, beide Gegenstände wackeln einsam in den Stillstand. Er passt in keine Kiste, variiert mit einem Pappkarton als Spielzeug oder absurdes Kleidungsstück. Er trägt eine Sonnenbrille und eine schwarze Gummikappe, verbirgt seine Persönlichkeit und trägt doch offensichtlich mit seiner Unterhose im militärischen Tarndesign etwas mit sich, das ihn traumatisiert.

Eine Stunde voller Rätsel. Krächzende Geräusche und Sprache aus den Ätherwellen des Alls kommen vom bulgarischen Staatsrundfunk, in ihrer Wirkung assoziieren sie zur militärisch anmutenden Lichtinstallation im Hintergrund Kriegsberichterstattung der 80er Jahre. Am Ende, fast verzerrt und in schräger Bandmanier, ein Folkloreschlager, „Funiculì funiculá“, 1880 zur Einweihung der Standseilbahn am Vesuv geschrieben. Dazu eine Art Befreiungstanz, grandios, aber trügerisch. Der Tänzer spannt eine fast unsichtbare Schnur quer durch den Raum, als ginge sie durch sein Hirn quert ein zweigeteilter Mensch die Bühne. Das Licht verändert sich, der militarisierte Hintergrund wandelt sich und lenkt den Blick in Höhe barocker Himmelsfantasien einer üppig ausgemalten Kirchenkuppel.

Dann die eigentliche Festivaleröffnung, dort wo alles begann, vor 25 Jahren, im Hebbel-Theater. Man hat einen Star der gegenwärtigen Tanzszene eingeladen, Faustin Linyekulea verarbeitet in „Drums and Digging“ ein Kapitel aus der Geschichte seiner kongolesischen Heimat. Mag alles politisch korrekt sein, was wir in langen, salbungsvoll deklamierten Monologen über die Geschichte des einst prächtigen, heute verfallenen Palastes des Diktators Mobutu erfahren. Mag alles mit Herzblut zusammengefügt sein, was wir zu sehen bekommen in einer Mischung aus Ritualen und Versatzstücken des zeitgenössischen, europäischen Tanzes in Wiederholungsschleifen. Anhaltende dramaturgische Schwächen aber führen ganz schnell in den szenischen Leerlauf. Seltsames Phänomen, wenn man am Ende den absurden Eindruck hat, dass ein Stück von 90 Minuten Dauer um zwei Stunden zu lang erscheint.

Am zweiten Festivaltag geht es nach Berlin Kreuzberg in die entwidmete Kirche St. Agnes, einem Betonbau der 60er Jahre, heute kulturell genutzt. Hier zeigt Trajal Harrell „Made-to-Measure“: postmoderner Minimalismus wie er sich seit den 1960er Jahren in der New Yorker Judson Church etablierte, trifft auf schrille Voguing.Attacken der 1970er Jahre aus der vornehmlich schwarzen, schwulen Ballroom-Szene in Haarlem. Hier werden Posen der Models zum Anlass genommen für Tanzexzesse mit einigen immer wiederkehrenden Bewegungen, vornehmlich wild und schnell beim Knicken oder hochreißen der Arme, die Körperlichkeit wird durch aufgesetzte Beckenarbeit betont. Das geht dann ganz schön zur Sache im ehemaligen Sakralbeton, bevor es aber so weit ist, sitzen drei Tänzer in schwarzen Fummelfetzen andächtig in Kirchenhaltung und wir hören lauten Discosound. Die Akteure singen selbst, oder sie singen mal mit. Dann hotten sie sich tropfnass zusammen. „Concept is over“, versteht man mal zwischendurch, was ist „in“? Immerhin, Harrell, aber vor allem seine beiden Mitstreiter, halten durch − ein Teil des Publikums nicht, und am Ende siegt eine Mischung aus Sympathie und Festivallethargie.

Und dann, am Abend, in den Sophiensaelen, da funktioniert alles. Da gibt Choy Ka Fai aus Singapur eine Lecture Performance namens „Notion Dance Fiction“. Das macht Spaß. Zunächst gibt der Künstler einen knappen Abriss der Geschichte zur Erforschung dessen, was im Muskelgewebe eines Menschen geschieht, wenn er sich bewegt, lacht, tanzt oder küsst. Alles, was im Innern des Körpers geschieht, lässt sich mit elektronischen Methoden hörbar machen.

Im Selbstversuch hören wir Choy Ka Fais „Muskelmusik“ wenn er traditionelle Bewegungen der Butoh-Kunst zeigt. Dann, so unterhaltsam wie spannend, ein Parforceritt durch die Geschichte des modernen Tanzes: von Waslaw Nijinsky über Isadora Duncan zu Pina Bausch, Meg Stuart. Ohad Naharin oder Wayne McGregor fehlen nicht, alle lassen sich nicht aufzählen. Jeweils typische Bewegungen sind elektronisch dokumentiert, die Impulse der Muskeln gewissermaßen gespeichert und lassen sich so als Steuerung der eigenen Bewegung in den Muskelapparat eines anderen Menschen übertragen. Und das Experiment klappt, jedenfalls haben wir keinen Grund zu zweifeln, wenn die Tänzerin Annapaola Leso von den genannten Ikonen per Elektroimpuls übernimmt, was sie − falls sie nicht mehr unter uns sind − unsterblich gemacht haben soll. Annapaola Leso als Nijinskys „Faun“ oder wie einst Pina Bausch im „Café Müller“.

Dann kommt das große Augenzwinkern, die Tänzer und ihre Tänze lassen sich mischen, man kann halb Nijinsky sein und halb Bausch, man kann mit sich selbst und anderen im Trio tanzen, historisch oder gegenwärtig, der Tanz in solcher Art der Reproduzierbarkeit kennt keine Grenzen − oder doch? Nein, um eine schöne, neue Tanzwelt der automatisierten Menschen geht es nicht, denn Choy Ka Fai stellt die Geräte ab. Annpaola Leso tanzt. Wunderbare, konzentrierte Stille... Man könnte jetzt rätseln, wessen Tradition sie jetzt gerade aufnimmt: Wen zitiert sie? Man würde der Tänzerin unrecht tun, dem Tanz sowieso und sich selbst um die Berührung dieser abschließenden Szene bringen. Dann hören wir den Atem der Tänzerin, dann blendet uns starkes Gegenlicht, bald verschwimmen die Umrisse. Wir spüren etwas von der Energie einer tanzenden Frau, die Geschichte und Geschichten hinter sich lässt und daher so eindringlich ankommt bei uns.
 

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