Leibhaftiges Menetekel

Performance „Wahn-Sinn“ von Heike David mit dem Bassisten Morbus Friz im Tresorraum Tübingen

Das gleiche Verständnis von Nichtmusik verbindet Performancekünstlerin Heike David und Musiker Morbus Friz. Was daraus entsteht? Kraft, Konzentration und Präsenz, die den Abriss geweihten Tresorraum in Tübingen erfüllen.

Tübingen, 17/06/2013

„Auf de' schwäb'sche Eisebahne gibt's gar viele Haltstatione: Schtuagart, Ulm on Biberach, Mekkabeure, Durlesbach. Trulla trulla trulla-la!“ Nicht das Original, sondern eine von Morbus Friz auf der Bass-Gitarre tiefer gelegte und stark verfremdete Version des Volkslieds treibt die Performance-Künstlerin Heike David an. Einer entfesselten Wetterhexe gleich stiebt sie durch den Tübinger Tresorraum. Statt des Besens ist ein winziger Rollsitz ihr Gefährte. Voll kindlich anarchischer Lust schiebt sie sich durchs Publikum, pfeift mit der Lokomotive um die Wette, zieht Spielzeug hinter sich her, kollidiert mit Stühlen und kontrolliert die Eintrittskarten: „A Billettle send so gut“.

Die Fahrkarte berechtigt zur Reise in den „Wahn-Sinn“, ein Exkurs in drei Etappen, der von der Lektüre „Die Zerstörung der Sinnlichkeit“ (Bernd Nitzschke) inspiriert, mit einer Verbeugung in alle Himmelsrichtungen beginnt. In unregelmäßigem Flackerlicht folgt dem Ritual innerer Sammlung der wilde Ritt auf der Schwäbischen Eisenbahn, nicht ohne persiflierende Anspielungen an das Stuttgarter Bahnhofs-Debakel: So steht auf den Tickets DB nicht für Deutsche Bahn, sondern für Die Betrüger und unter den Spielsachen, die dieser Zug hinter sich herzieht, findet sich neben der Ziege auch ein Miniatur-Castor-Behälter.

Nach Konzentration und Zerstreuung ist die dritte Etappe eine Art lebendiges Wandrelief. Wie in Trance schiebt sich die Figur entlang der Mauer. Im harten Schlaglicht eines Scheinwerfers dreht, drückt und verrückt der zerbrechliche Körper. Das Bild der weisen Frau, die sich achtsam seitwärts bewegt, verändert sich langsam vor den lackschwarzen Plastikbahnen, mit denen die Wand bekleidet ist. Mal verschmilzt sie mit dem Material, mal verschwindet sie dahinter gänzlich. Ein Psychodrama ohne Worte gleicht diese Gratwanderung zwischen Sinn und Wahn, einem Menetekel subjektiv gebrochener Wahrnehmung und latenter Kippmomente.

Tieftönende Klang-Cluster heben die getaktete Zeit auf, die Enge des ehemaligen Tresors weitet sich zu Wahrnehmungsräumen, in denen wie auf einer Möbius-Schlaufe, Innen und Außen nahtlos korrespondieren. „Wir haben das gleiche Verständnis von Nichtmusik“, sagt David zur Improvisation von Friz: „Ohne zeitliches Schema erschaffen Klänge, Sounds, Energien, Gefühle und Sphären einen Raum, durch den ich mich bewegen kann. Er nennt seine Musik heilende Rückkopplungen, das empfinde ich auch so.“ Auf seinem fünfsaitigen E-Bass − für ihn persönlich mit besonderem Tremolo gebaut − wiederholt, quetscht und zieht er die Töne bis zum Anschlag, setzt dazwischen tiefe archaische Urlaute, die im Magen zu spüren sind.

Veranstalter Serge Le Goff, der den Tübinger Tresorraum für Elektrische Kunst 2009 gegründet hat und seither Kunst abseits des Mainstreams einlädt, ist vom Amalgam aus Klang, Licht und Bewegung des Duos Davis/Friz ebenso begeistert wie die Zuschauer: „Die Kraft, Konzentration und Präsenz, die in dieser Butoh-Performance stecken, sind grandios!“ findet Roswitha Dönnges. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Einfach der Wahnsinn!“, gesteht die Bildende Künstlerin.
 

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