Tanzen wie im Schlaf

Boris Charmatz „enfant“ fasziniert und irritiert bei Tanz! Heilbronn

Völlig entspannt und ohne Anstrengung, quasi schlafwandelnd, lässt Charmatz kleine und große Tänzer tanzen. Inspirieren ließ er sich auch von den Bühnenkränen des Festivals in Avignon.

Heilbronn, 17/05/2013

Als er nachts gesehen hat, wie beim Festival in Avignon die Kräne vor der 30 Meter hohen Wand die 40 Meter breite Bühne eingerichtet haben, habe er gedacht: „Wow, das ist die beste Performance!“, so Boris Charmatz beim Nachgespräch im Foyer des Theaters Heilbronn. Sein Wunsch sei es gewesen, ein Stück zu machen, in dem Maschinen choreografieren, Profis mit Laien auftreten, Tänzer gemeinsam mit Kindern spielen.

So beginnt „enfant“ (Kind), die Performance für neun Tänzer und eine Gruppe Kinder, mit metallischen Geräuschen, allerdings nicht unter freiem Himmel wie bei der Uraufführung in Avignon, sondern im dunklen Innenraum, auf offener Bühne. Leises Sirren einer Winde, das Schnappen eines Stahlseils, das immer wieder aus Halterungen springt, niemand weit und breit, der das Gerät bedient; Kontrolle ist das Thema des Festivals „Tanz! Heilbronn“, die erste Viertelstunde scheint den Geräten überlassen, von denen keiner weiß, wer sie kontrolliert, ob sie überhaupt kontrolliert werden.

Eine kleine Ewigkeit später baumeln zwei leblose Figuren an den Kränen, ein Kran-Arm dreht sich, senkt sich, legt eine Figur ab, nimmt sie wieder auf, dreht sich, legt sie woanders hin. Wie Puppen liegen sie mal übereinander, mal nebeneinander. Langsam erwachen die Maschinen dieser Schattenwelt, ein breites, nach hinten ansteigendes Fließband zieht Tänzer ein Stück aufwärts, sie kippen, fallen und rollen abwärts. Die Fläche davor beginnt zu vibrieren und schüttelt die Körper durch, im Liegen, Knien und Stehen.

Alles Schwarz in Schwarz, füllt sich der Raum mit Erwachsenen: Sie tragen Kinder herein, Gedanken an Mahlers „Kindertotenlieder“ oder Goethes „Erlkönig“ tauchen auf. Wirken die Knirpse anfänglich erschöpft, schlafend oder erstarrt, werden die leblosen kleinen Leiber gestreichelt, in den Armen gewiegt und wie Flieger durch die Luft geschleudert. Lauf-, Fang- und Singspiele wie Beethovens Kanon „Signor Abate“ wechseln einander ab. Ständig ist die Gruppe in Bewegung, einem Schwarm gleich, der inneren Gesetzen folgt. Zu den Schritt- und Atemgeräuschen kommt Kindergeschrei vom Band, das in Vogelgekreisch à la Hitchcock mündet.

Während die Erwachsenen ins Schwitzen kommen, Teil ihrer Shirts ablegen und langsam ermüden, werden die Kinder immer munterer. Von Ferne ein Dudelsack, der Musiker kommt auf die Szene, ein Rattenfänger, der das Tohuwabohu aufmischt, bis er vom Kran-Arm erfasst, kopfüber hängend weiter bläst. Langsam erlischt das Licht. Zugleich irritiert und fasziniert erwacht das Publikum aus dem Bann eines großen Nachtstücks, das viel Raum für Interpretation lässt.

Charmatz, 1973 in Chambéry (Frankreich) geboren, sucht die Nähe zu Philosophie und bildender Kunst. Für ihn ist das Stück „enfant“ auch die Begegnung mit dem Spielerischen und der eigenen Kindheit. Auch habe er sich einen „choréographique désir“ erfüllt und realisiert, wovon alle Tänzer träumen: völlig entspannt und ohne Anstrengung, quasi schlafwandelnd, zu tanzen.
 

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