Mit der Tradition in die Zukunft

Die Deutsche Tanzkompanie Neustrelitz setzt mit „Folklore!“ ein Achtungszeichen

Wie man Folklore zeitgenössisch aufbereitet und damit auch noch gut ankommt, zeigt die Tanzkompanie Neustrelitz.

Neustrelitz, 08/05/2013

Die Folklore hat in Deutschland keinen leichten Stand. Während etwa beim Festival TANZOLYMP alljährlich die Volkstanzensembles aus Russland umjubelt werden und zu den absoluten Höhepunkten zählen, wird man auf einen entsprechenden Beitrag aus unseren Gefilden vergeblich warten. Liegt es am eher bieder behäbigen Zuschnitt deutschen Volkstanzes, an seinem arg heimattümelnden Missbrauch durch die Nazis, an seinem prononcierten Einsatz in sozialistischen Zeiten? Man kann über die Gründe nur mutmaßen.

Trachtengruppen gebe es in jedem rheinischen Dorf: Mit diesem Argument löste der Berliner Senat kurz nach der Vereinigung das in Berlin beheimatete Staatliche Tanzensemble auf, die beste der drei professionellen Folkloretruppen der DDR. Umso höher ist der Einsatz all jener wertzuschätzen, die wenigstens dem Staatlichen Dorfensemble in Neustrelitz eine Zukunft eröffneten und es zur Deutschen Tanzkompanie umformten.

Zwei Jahrzehnte besteht die Gruppe mittlerweile, hat alle Finanzierungstiefs überstanden, kollaboriert mittlerweile mit der Theater-GmbH aus Neubrandenburg und Neustrelitz, das sein eigenes Ballett längst aufgelöst hatte, schrumpfte sich allerdings mit derzeit sechs Paaren auch auf weniger als die Hälfte ungesund. Und steht vor dem künstlerischen Balanceakt, Folklore zu pflegen, ohne den Bezug zur Gegenwartskunst zu verlieren.

Seit vor zwei Jahren Torsten Händler, Ballettchef in Zwickau-Plauen, zudem auch die künstlerische Leitung der Deutschen Tanzkompanie übernahm, hat er ihr ein eigenes Profil gegeben: Er tut das eine, ohne das andere zu lassen. Heißt, er arbeitet mit dem Schritt- und Formengut des Volkstanzes, platziert ihn jedoch in einem Umfeld von heute und im Dienst zeitgenössischer Themen. Zu welch eindrücklichen Ergebnissen das führt, bewies im Neustrelitzer Theater die jüngste Premiere, mit der das Team nun auf seine traditionelle Sommertour durch die Kaiserbäder gehen wird.

„Folklore!“ reiht rund 75 Minuten lang Miniaturen um menschliche Befindlichkeiten und nimmt die Tradition als Ausgangspunkt. Hinter den prächtigen Folklorekostümen älterer Produktionen, wie sie auf Kleiderpuppen über die Bühne fahren, lugen bald junge Tänzer hervor und verlassen so den Kokon der Vergangenheit. Jene aufwändig applizierten Dirndl als Teil der Ensemblegeschichte sind gleichsam die Kulisse, in die die Paare nach ihrem Tanz wieder entschwinden.

Mit einem musikalischen Streifzug von Balkan über Bayern bis Walzer beginnt der Abend. Beim Flirt eines Narren mit vier amüsierten Damen klingeln seine Schellen; „Leidenschaft“ zeigt orientalisierend die vergeblichen Mühen von vier Burschen um trickreich sich entziehende Frauen; „Boarisch“ nimmt humorvoll bajuwarisch männliche Selbstgefälligkeit in den unvermeidlichen Krachledernen aufs Korn, mit Schuhplattlern, zu Alphornklang, dem Zither-Welthit aus dem Film „Der dritte Mann“.

Was Händlers Stärke ist, den Reichtum der menschlichen Seele in tänzerische Form zu gießen, bescherte dem Abend Höhepunkte. So berührte im Triptychon „Spiel/Erfahrung/Vertrautheit“ der emotionale Bogen vom Aufkeimen der Liebe zwischen einem Schüchternen und seiner beherzt schubsenden Auserwählten über neue Wahlverwandtschaften unter zwei Paaren bis zu den widerstreitenden Gefühlen im Leben einer gestandenen Bindung. All dies mit Folkloreeinsprengseln im zeitgemäßen Bewegungskanon, in der erfindungsreichen dritten Miniatur zur melancholischen Musik von „Greensleaves“.

Was man sich zu einem Volkslied wie „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“ an jazziger Rivalität zweier Burschen um ein Mädchen einfallen lassen kann, stellte ein weiteres Mal die tänzerischen wie auch darstellerischen Qualitäten von Emanuel Schonkalla und Philipp Repmann unter Beweis.

Dass nach wie vor die Folklore ihren Platz im Repertoire der Tanzkompanie behält, dafür sorgen fünf Beiträge von Kirsten Hocke, dem langjährigen Ensemblemitglied. Wirkte „Schüddel de Büx“ mit seinen originalen Formen wie ein Fremdkörper in dem jedem Folklore-Frohsinn abholden Händlerschen Bewegungskosmos, so gelang Hocke mit „Halling“ nach einem norwegischen Volkstanz ein echter Wurf: Repman hat dazu mit bravouröser Akrobatik den Hut zu erhaschen, den ihm seine Partnerin Lenka Liebling immer raffinierter entgegenhält und ihn so zu stets komplizierteren Sprungtricks provoziert, bis zu bodenständigen Anleihen beim HipHop.

In der besten Tradition der großen Folklorebilder aus DDR-Zeiten findet sich ihre „Erntezeit“: Liebe nach getaner Feldarbeit mit der Sense, in wirbelnden Formen und originell heutiger Umsetzung. Dass „Folklore!“ bei allen stilistischen Unterschieden so sehr geschlossen wirkt, verdankt sich ebenso Sieghart Schuberts durchlaufend komponierten Arrangements in ihrem modernen Klangbild wie dem hohen Standard der Deutschen Tanzkompanie. Wenn Torsten Händler mit dieser Spielzeit seine Funktion als künstlerischer Leiter niederlegt, wird es für das Ensemble essenziell, wieder eine Führungspersönlichkeit von ähnlichem Format zu gewinnen, will sie nicht rasch hinter das Erreichte zurückfallen.

Wieder 31.5., Schauspielhaus Neubrandenburg
 

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