Der Körper als Produkt der Gesellschaft

Jérôme Bel mit dem Stück „Jérôme Bel“ bei der Tanzwerkstatt Europa

München, 07/08/2002

In Marseille wollte ihn ein Mann nach der Vorstellung beißen; in Madrid konnte eine Frau nicht aufhören zu weinen; manchmal forderte jemand vom Theaterdirektor sein Eintrittsgeld zurück; und in Dublin wurde beinahe die Polizei gerufen. Die Reaktionen der Zuschauer auf die Vorstellungen von Jérôme Bel sind extrem. Sie reichen von völliger Begeisterung bis hin zu wütender Ablehnung der zugemuteten Tabubrüche. In seinen Stücken führt der Franzose auf gleichermaßen brillante wie radikale Weise vor, was er sich überlegt hat zu den Bedingungen und Konventionen des Theaters, den Regeln des Zuschauens und Rezipierens, zur sinnlichen Präsenz des Akteurs auf der Bühne und der Rolle des Autors im Hintergrund.

Davon handelte schon sein erstes Werk „Nom donné par l'auteur“, dem der 1965 geborene Künstler ein Jahr später, 1995, sein Stück „Jérôme Bel“ folgen ließ, das heute bei der „Tanzwerkstatt Europa“ in der Muffathalle (20.30 Uhr) gezeigt wird. Das Stück handelt weder von Jérôme Bel, noch tritt er in ihm auf. Stattdessen kommt eine nackte Frau auf die Bühne, die eine Glühbirne trägt. Eine zweite, jüngere Frau schreibt mit Kreide „Stravinsky Igor“ an die Wand und singt die Melodie von „Le Sacre du printemps“. Eine dritte Frau erscheint, und schließlich tritt noch ein Mann auf. Sie alle tun etwas. Schreiben sich Zahlen und Buchstaben auf den Bauch, „Christian Dior“ aufs Bein oder ziehen Hautlappen ihres Körpers in groteske Formen.

Die Bewegungen und Verrichtungen sind einfach, der abgehandelte Sachverhalt ist so kompliziert wie konkret: Der Akteur ist Zeichenträger, ist Projektionsfläche kultureller Zuschreibungen, sein Körper ein Produkt gesellschaftlicher Umstände. Gleichwohl bedeutet Bel die sinnliche Präsenz des Körpers auf der Bühne alles: „Das ist es, was ich zum Vorschein bringen möchte. Ich suche nach der „Menschlichkeit“ in jedem Darsteller, das, was sich der kulturellen Überformung widersetzt. Mein politischer Widerstand besteht dort, wo wir uns dem herrschenden Kapitalismus widersetzen.“ Bel meint, was er sagt. Nachdem er dem Choreografen Philippe Decouflé bei der Show zur Eröffnung der olympischen Winterspiele 1992 in Albertville assistiert und damit viel Geld verdient hatte, konnte er zwei Jahre davon leben.

Zurückgezogen, reduzierte er seinen Lebensaufwand auf das Mindeste, schreibt der Autor Helmut Ploebst in dem Buch „No wind no word. Neue Choreographie in der Gesellschaft des Spektakels“ über Bel. In der Zeit las er sich durch die Leihbibliothek in seiner Nachbarschaft.

Bels Theater ist ein Metatheater, das den Zuschauer zum Mitautor macht, weil er ständig aufgefordert ist, seine Gefühle, Erinnerungen und Erwartungen mit dem abzugleichen, was auf der Bühne vor sich geht. Vorzuschreiben, was man angesichts seiner Aufführungen denken soll, lehnt Bel ab. „Das ist Ideologie. Ich möchte nicht, dass das Publikum mir glaubt, sondern dass es mit mir mitdenkt.“

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