„Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört“ von Pina Bausch. Tanz: Helena Pikon und Lutz Förster

„Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört“ von Pina Bausch. Tanz: Helena Pikon und Lutz Förster

Pina Bauschs „Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört“ neu einstudiert

Trauer und Triumph des Alterns

Der Titel des Stücks geht auf eine Prophezeiung im Alten Testament zurück (zitiert im Matthäus-Evangelium: „Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört…“): Herodes befiehlt den Mord an allen Knaben bis zum Alter von zwei Jahren nach Jesu Geburt.

Wuppertal, 28/04/2013

Wie Bauschs verstörendes „Frühlingsopfer“ (Le Sacre du Printemps) von 1975 ist der Bühnenboden mit einer dicken Schicht aus Torf und Sand bedeckt. Immer wieder breiten sich dichte Nebelschwaden aus. 26 Tänzer stehen auf der Bühne - sechs davon aus der Uraufführungs-Inszenierung von „Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört“, 1984. Das ist das Einzigartige am Tanztheater Wuppertal: Wie sich die Stücke verändern durch das Altern der Tänzer oder auch durch jüngere, die vorsichtig integriert werden - das gibt ihnen eine immer wieder andere Qualität und neue Tiefe. Eine der ergreifendsten Szenen ist ein Duo von Dominique Mercy und Lutz Förster, die - zwei alte Herren - sich gegenseitig stützen, ein rührendes Tänzchen wagen. Wirkte das bei der Uraufführung eher tragikomisch, so überwiegt jetzt tragische Wehmut.

Der Titel des Stücks geht auf eine Prophezeiung im Alten Testament zurück (zitiert im Matthäus-Evangelium: „Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört...“): Herodes befiehlt den Mord an allen Knaben bis zum Alter von zwei Jahren nach Jesu Geburt. Wie auf der Flucht huschen die Tänzer anfangs an den Wänden der Bühne und des Zuschauerraums entlang. Auf die Bühne schlendert gleichzeitig ein Mann in knapper roter Badehose mit roter Badekappe und Sonnenbrille, mit rosa Gummihandschuhen und schwarzen Badelatschen (Michael Strecker). Aus der Hose zieht er einen Luftballon nach dem anderen, bläst ihn auf, bis er zerplatzt. Der Nächste bitte… Widerlich wirkt dieses Vernichtungsritual. Später wird der Mann im dunklen Anzug - geschniegelt, rauchend, mit feistem Grinsen - auftreten, das Gesicht entstellt durch ein dickes Gummiband, das seine Nase und die Ohren zusammendrückt.

Wie Teile eines Puzzles reihen sich die kurzen Szenen aneinander. Aus dem Lautsprecher tönen von alten, knisternden Schellackplatten die Stimmen von Enrico Caruso und Edith Piaf, Erroll-Garner-Jazz und irische Dudelsackweisen. Dazwischen Mendelssohn-Bartholdys „Kriegsmarsch der Priester“ (brutale Geschlechterkämpfe, erzwungene Liebesakte) und Heinrich Schütz' Motette „Auf dem Gebirge…“ in der Bläserfassung. Gegen Ende des zweieinhalb-stündigen Abends spielt das Wuppertaler Senioren-Blasorchester in ganz ähnlicher Besetzung Unterhaltsames mitten auf der Bühne. Neben dem Dirigenten steht Julie Anne Stanzak mit todtraurigem Gesicht - wie die alt-testamentarische Rahel, die „ihre Kinder beweinte und sich nicht trösten lassen wollte, denn es war aus mit ihnen“ (zitiert im Matthäus-Evangelium).

Knapp vor der Pause steht Ditta Miranda Jasjfi im grauen Kleid mit zusammengekniffenen Lippen und geschlossenen Augen, die Arme eng an den Körper gepresst an der Rampe. Franko Schmidt färbt ihre Haare mit einem Stück Kreide grau. Auch nach der Pause steht die Frau wie angewurzelt da. Vorher hatte die Indonesierin im selben Kleid zu einem ihrer unglaublich schönen Schmetterlingstänze angesetzt ebenso wie Rainer Behr zu einem seiner schwindelerregend wirbelnden Solos - beide im Keim erstickt, als unpassend weggefegt. Auch die berühmte Bausch-Diagonale wird mit einer malerisch versonnenen Polonaise aller im Gänsemarsch durch die Nebelschwaden nur angedeutet. Insgesamt gehört dieses Stück - entstanden vier Jahre nach Rolf Borziks Tod - zur eher tanzarmen Bausch-Zeit.
 

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