Hand an Hand und Herz an Herz

Neumeiers Klassiker „Romeo und Julia“ überzeugt in Neueinstudierung

Gelungene Rollendebüts, ein fantastisches Ensemble und präzise Gruppentänze machen aus der Neueinstudierung von „Romeo und Julia“ ein Paradestück für die Qualität der Hamburger Kompanie.

Hamburg, 13/04/2013

Kein Paar wie jedes andere. John Neumeiers Romeo begegnen wir zuerst – schlafend unter der Treppe zum Hause Capulet. Julia hüpft derweil noch im Bad herum, witzig hinter Tüchern verborgen, mit denen ihre Zofen jeweils geschickt die drohende Entblößung vermeiden.

In Gestalt von Alexandr Trush ist Neumeiers Romeo gerade nicht der italienische Macho, sondern ein melancholischer Träumer, der sich in romantischer Begeisterung nach seiner Geliebten sehnt. Denn ein Schwärmer ist er natürlich auch, reißt den Pater Leonardo, der ihn weckt, zu einem flotten Tänzchen mit und springt dann auch mit der versammelten Dorfjugend seine frischverliebte Freude heraus.

Noch gilt sie Rosalinde, der Cousine Julias, die Neumeier aus Shakespeares Text wiederbelebt hat, um seinen Romeo als in Liebesdingen immerhin erfahrenen Jüngling erscheinen zu lassen. Aber da mag auch bereits mehr Liebesschmerz darinnenliegen, denn selten nur kann er Rosalinde aus dem feindlichen Hause der Capulets nahe kommen. Und während er die Nacht offenbar träumend verbracht hat, nimmt sein Cousin Benvolio ohne Hemd nach offenbar konkretem erfüllten Abenteuer von seiner Belladonna Abschied. Der junge Emanuel Amuchástegui gibt den vorwitzigen Draufgänger mit Siegercharme und kraftstrotzenden Sprüngen. Derweil Romeo sich mit einem rosa Tuch von der Hand Rosalindes begnügt.

Dass Benvolio sozusagen mit offener Hose ausgerechnet dem Pater Lorenzo in die Arme läuft, gehört zu den Beispielen für Neumeiers dezenten Witz, den er an die Stelle der heute oft so altbacken maniriert wirkenden Pantomimen des Prokofjew-Stücks setzt. Auch ist sein Lorenzo ein junger Mann, fast noch Komplize der Jugend und besonders Romeo in jener engen Zuneigung verbunden, die sonst Romeos Verhältnis zu Mercutio kennzeichnet. Sasha Riva spielt die Figur mit Güte, aber auch einer gewissen Traurigkeit − als wüsste der Priester, wie endlich die euphorischen Gefühle in dieser kriegerisch-unvollkommenen Welt sind. Neumeier gönnt ihm da still erfüllte Anrufungsgesten, die sozusagen die tragische Handlung umschließen.

Es ist Ball bei Capulets, und noch immer haben sich Romeo und Julia nicht entdeckt. Neumeier baut das Stück wie einen Krimi, in dem die Spannung mit schnellen überraschenden Schnitten und fließenden Verwandlungen des lichten Renaissance-Bühnenbilds von Jürgen Rose erzielt wird. Die Gesellschaft tanzt auf Spitze, die Elterngeneration ist ganz gefrorene Form, gotisch überlängt in den kantigen Gesten. Und ihre Tänze werden von den Jungs um Romeo spaßig karikiert, wenn sie vorm Ball bei ihrem Tanz wie flügelschlagend, im Übrigen sprungstark und bestens synchron, im Rhythmus flattern.

Als Zuschauer hat Romeo nur Augen für Rosalinde (Xue Lin), während Julia ihrem Bräutigam Graf Paris entgegenstolpert, den Silvano Ballone mit edler Ruhe gibt. Julia aber kann bei Neumeier zunächst noch gar nicht tanzen, rempelt ungeschickt endlich auch Romeo an: ein Blick, ein Blitz − jetzt haben sie sich. Fließender gelingen ihr nun die Bewegungen auf Spitze mit Drehungen, unversehens geraten sie im Reigen wieder aneinander, begegnen sich Handfläche in Handfläche, ein wunderbares Bild für die gegenseitige Zuwendung des Inneren, Verletzlichen, Weichen.

Neumeier benutzt diese Geste als Leitmotiv. Sie kontrastiert mit den gegeneinander erhobenen, sich nicht berührenden Handflächen der verfeindeten Familien, die Abstoßung symbolisieren − wenn auch waffenlose, wie es der Doge befiehlt. Zusammengelegt aber sind sie nun Romeos und Julias Liebesmotiv, das in der Balkonszene vielfach variiert wird. Wenn sie oben, er unten im Hof die Handinnenseiten küssen, sind sie über jede Distanz miteinander vereint. Und wenn sie dann zu ihm hinabsteigt, geschieht alle Annäherung noch immer über dieses Motiv. Denn er hebt sie mit seinen Unterarmen unter den ihren an, so dass sie dabei in ihre Handflächen schauen können. Aus Hand an Hand wird fließend Gesicht an Gesicht, Lippen an Lippen, der Kuss. So könnte Neumeier mal Wagners „Tristan“ inszenieren.

Wie gut aber, dass er in Alexandr Trush als Romeo und Florencia Chinellato als Julia ein so charismatisches Liebespaar hat, das uns über alle technische Anstrengung hinweg scheinbar mühelos in höhere Sphären der Zärtlichkeit erhebt. Chinellato gelingt das aufgeregte Hopsen des Mädchens am Anfang, der scheue Auftritt im Ballsaal genauso wie die nun raumgreifend fließende Zärtlichkeit der jungen Frau. Und Trush bleibt auch als starker Heber, als ungebärdig über den Boden kugelnder Liebhaber ganz weich und fürsorglich. Als tanzte die Traurigkeit um die Zerbrechlichkeit ihrer Beziehung auch in den Momenten des Begehrens und unbändiger Freude mit. Noch ist ihr Annähern und Trennen Spiel. Und dann tritt er doch ihrem Ausweichen einmal fest entgegen, einen Moment stehen sie ernst Auge in Auge, denn jetzt könnte es ernst werden. Wieder Krimispannung. Es bleibt beim Kuss. Kein Paar wie jedes andere.

So unbelastet werden sie sich nicht wiedersehen. Nach der heimlichen Heirat bei Lorenzo gerät Romeo in die Händel seines Freundes Mercutio mit Julias verwegenem Cousin Tybalt. Alexandre Riabko zeigt den Mercutio als Edelmann, reifer schon als Romeo, ganz Grandezza, ganz Hochmut, und damit ebenso gefährlich wie der großspurige Tybalt. Machos unter sich. Im Todeskostüm der Schauspieltruppe gibt Mercutio sterbend seine letzte Vorstellung, als wüsste er’s selber nicht. Nur Kiran West als Tybalt schaut schon wissend auf seinen blutigen Dolch. Romeo, der auch hier hatte weich und ausgleichend wirken wollen, rächt den Freund im Affekt.

Mord auf Mord, und dann die Liebesnacht. Wir wissen nicht, was in dieser wirklich geschah. Romeo ist (noch? schon?) halb angezogen, wenn wir das Paar finden. Abschied steht im Raum. Seine Arme bleiben weit geöffnet, während Julia an ihm hängt. Sie hat fortan eine weltbezwingende Kraft, geht mit energischer Spitze gegen die Verheiratungspläne ihrer Eltern vor, riskiert mit Gift ihren Tod, um, als Scheintote beerdigt, wiedererstehen zu können für Romeo in der Gruft.

Der Krimi läuft. Denn Romeo sitzt wieder in alter Melancholie sinnend auf dem Theaterkarren, um der Blutschuld zu entkommen. Schön, wie Neumeier auch dieses Motiv schließt. Lorenzo rennt – zu langsam. Romeo bleibt mit der vermeintlich toten Julia allein in der Gruft, tanzen macht nun keinen Sinn mehr, ihren Plan kennt er ja nicht. Er ersticht sich. Die erwachende Julia versucht seine Hand wieder an die ihre zu legen, die sinkt schlaff herab. Auch dieses Motiv schließt sich. Hand in Hand mit ihm ersticht sie sich auch. Ende eines emotional aufwühlenden, mit psychologischem Feinsinn erzählten Lebensdramas.

Die gelungenen Rollendebüts, ein ausdrucksstark sich die vielen Figuren erschließendes Ensemble, präzise Gruppentänze (und die von Markus Lethinen expressiv interpretierte Musik) machen aus der Neueinstudierung ein Paradestück für die Qualität der Hamburger Kompanie. Es ist wunderbar zu sehen, wie John Neumeier immer wieder neue Tänzergenerationen durch sein Repertoire führt. Das ist Shakespeare, Prokofjew, Neumeier und Kompanie as its best.
 

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