„Préludes CV“ von John Neumeier. Tanz: Anna Laudere und Ivan Urban

„Préludes CV“ von John Neumeier. Tanz: Anna Laudere und Ivan Urban

Dances at a ... FEELING

Wiederaufnahme von „Préludes CV“ beim Hamburg Ballett

„Préludes CV“ ist das 125. Werk im Schaffen John Neumeiers. Es hat keine Geschichte – außer der Handlung, die man beim Hören der Musik und beim gleichzeitigen Betrachten der Bewegungssituationen in sich selbst zu spüren vermag.

Hamburg, 09/01/2013

Die Vorwarnung steht gleich auf Seite 3 im Programmheft, wo John Neumeier unter der Überschrift „Vor der Aufführung zu lesen“ schreibt: „Versuchen Sie nicht, das Ballett zu verstehen. Es hat keine Geschichte (die ich Ihnen erzählen könnte) – außer der Handlung, die Sie eventuell beim Hören der Musik und beim gleichzeitigen Betrachten dieser Bewegungssituationen in sich selber spüren. Da formen sich sicher viele ganz unterschiedliche Geschichten...“ Die Seiten mit der eigentlichen Interpretation bzw. Erklärungen zu diesem Werk aus Neumeiers persönlicher Sicht im hinteren Teil des (sehr guten) Programmhefts sind denn auch folgerichtig verschlossen („Erst nach der Vorstellung zu lesen“) und nur mit einem scharfen Messer zu öffnen. Neumeier möchte, dass der Zuschauer selbst sich seine eigenen Gedanken macht zu dem, was er sieht. Dass er Stimmungen und Bilder in sich selbst entstehen lässt und sich ihnen überlässt. Dafür ist dieses Werk wie kein anderes geschaffen und neben der 3. Sinfonie von Gustav Mahler wohl eines der wichtigsten Signaturwerke des Hamburg Ballett.

„Préludes CV“ ist das 125. Werk John Neumeiers, uraufgeführt 2003. Es entstand auf zwei Zyklen von jeweils 24 Präludien für Klavier und Cello sowie für Klavier und Geige der zeitgenössischen jungen russischen Komponistin Lera Auerbach. „C“ steht sowohl für Cello und „V“ für Violine, wie „CV“ auch für Curriculum Vitae – Lebenslauf. Ein Wortspiel, das in den oft ebenso spielerisch wie dramatisch-expressiv dahingetupften Tanzstücken seine Entsprechung findet. Es ist ein Reigen von zwischenmenschlichen Begegnungen, zufälligen wie beabsichtigten. Es sind Charakter- und Gefühlsskizzen, orientiert an den Stimmungen und Bildern, die der Choreograph beim Hören der Musik empfand, aber auch an den Tänzerpersönlichkeiten, weshalb die Rollen (sofern man hier überhaupt von Rollen sprechen kann) mit den Vornamen der ursprünglichen Protagonisten benannt sind. Einige von ihnen sind glücklicherweise immer noch da (Silvia Azzoni, Sascha Riabko, Carsten Jung, Lloyd Riggins), bei anderen schlüpfen die Solisten von heute in deren Haut: Patricia Tichy und Carolina Aguero als Elizabeth (Loscavio), Hélène Bouchet als Heather (Jurgensen), Silvano Ballone als Peter (Dingle), Futaba Ishizaki und Florencia Chinellato als Anna (Polikarpova), Anna Laudere als Laura (Cazzaniga), Sasha Riva als Sebastien (Thill). Und so bringen alle Tänzer in diesem Stück fast noch etwas mehr von ihrer individuellen Persönlichkeit mit ein als sonst schon ohnehin in Neumeiers Stücken von ihnen gefordert wird.

„Préludes CV“ ist eines der intimsten und persönlichsten Ballette, die John Neumeier je geschaffen hat. In seiner vielfältigen Bewegungssprache ist es eines der choreographisch spannendsten zudem – auch gerade weil es keiner Handlung folgt, sondern jede Empfindung und Regung in Bewegung übersetzt. Ein Anliegen, das Neumeier schon seit jeher verfolgt und hier zu wahrer Meisterschaft perfektioniert hat. Zu einer Musik, die unmittelbar ins Herz geht – in ihrer Zartheit ebenso wie in ihrer Wucht. Die Musiker sitzen bzw. stehen mit auf der Bühne, was den Dialog zwischen Tanz und Musik noch intensiviert. Es erinnert in seiner Komposition stellenweise an „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins, an diese anscheinend zufälligen, leichtfüßigen, schwerelosen Begegnungen, die doch so durchdacht und beabsichtigt sind. Und es ist doch ganz, ganz anders. „Préludes CV“ – das ist das pralle Leben, mit Aggressionen, Enttäuschungen, mit Wut, Empörung, Verzweiflung, Angst, Vorsicht, Abwehr, Zurückhaltung, Trennung, aber auch mit Hingabe, Liebe, Freude, Verschmelzen, Zärtlichkeit. Es ist ein Kaleidoskop der Gefühle und Stimmungen, die Menschen in ihrem Leben empfinden können. Im zweiten Teil doppelt Neumeier die im ersten Teil angelegten Charaktere durch weitere Tänzer, teilweise sogar durch ganze Tänzergruppen – ein reizvolles Spiel, das dem Reigen noch mehr Schwung gibt.

Und gerade weil es so authentisch ist, entwickelt dieses Stück auf der Bühne eine sehr besondere Intensität, die sich unmittelbar auf das Publikum überträgt. Der Dialog der Tänzer mit dem Publikum ist mit Händen zu greifen – und wird durch den abgedeckten Orchestergraben noch verstärkt, wodurch die Tänzer oft direkt bis vor die 1. Reihe hin tanzen. Ein übriges tut die weitgehend leere, schwarze, weit nach hinten geöffnete Bühne, ergänzt durch einen schwarzen, nach vorne offenen und von Leuchtröhren umrahmten Kasten. Nur am Anfang ist noch der eiserne Vorhang heruntergelassen, der als himmelhohe Tafel dient, an die die Umrisse der ersten beiden Tänzer mit Kreide aufgemalt sind.

Ein Glücksfall ist hier einmal mehr die grandiose Kompanie, die ausnahmslos in Bestform auf der Bühne steht. Da kann man schauen, wohin man will – es gibt nichts zu bemängeln oder zu bedauern, vom Corps de Ballet bis zu den Ersten Solisten. Wen soll man hier besonders hervorheben? Silvia Azzoni und Sascha Riabko, die einmal mehr eine Intensität zu vermitteln vermögen, wie man sie nur selten von einem Paar erleben wird. Anna Laudere, die im Part von Laura Cazzaniga eine Pfiffigkeit und Frechheit an den Tag legt, die man bisher kaum an ihr gesehen hat. Carolina Aguero, die anrührend wie selten den Part der Elizabeth erfüllt. Yuka Oishi, die im 2. Teil eine furiose Heather abgibt. Lloyd Riggins, der seine ohnehin schon schwierige Charakterstudie noch einmal zu toppen versteht. Florencia Chinellato, die dem Part der Anna einfühlsam nahekommt. Patricia Tichy als distanzierte, elegante und doch so nahe, zerbrechliche Elizabeth. Aleix Martinez als Im'r da (früher der Part von Yukichi Hattori), der ebenso still und gesammelt sein kann wie explosiv-dynamisch und dabei eine wie immer bestechende Virtuosität an den Tag legt.

Und natürlich die Musiker: Lera Auerbach spielt den ersten Teil selbst am Klavier, an ihrer Seite Ani Aznavoorian, die ihr Cello oft im Dunkeln streicht und das schlafwandlerisch sicher und von schmelzendem Klang – das möchte man wieder und wieder hören. Nicht minder Vadim Gluzman an der Violine und Angela Yoffe am Flügel im zweiten Teil.

Das Publikum in der ausnahmsweise nicht ausverkauften Staatsoper war so gebannt, dass man manchmal eine Stecknadel hätte fallen hören können, und es gab eine wunderbare Pause der Stille am Schluss, bevor der Beifall losbrach. Wer immer in der Lage ist, eine der kommenden Vorstellungen zu besuchen, sollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Karten gibt’s noch genug – ein Grund mehr.

Weitere Vorstellungen am 9., 11., 12. Und 13. Januar sowie im Rahmen der Ballett-Tage am 29. Juni
 

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