Eine neue Kunstform geschaffen

"The Fall of the House of Usher" (Glass) UA von Daniela Kurz

Nürnberg, 26/05/2001

Es ist nachgerade faszinierend, was beim Nürnberger Ballett geschieht, seit die so experimentierfreudige wie einfallsreiche Daniela Kurz vor drei Jahren seine Direktion übernommen hat. Keine Uraufführung, die der Bühnenkunst nicht einen neuen Horizont weisen würde. Beinahe ließe sich sagen, die jüngste Premiere hätte sogar eine weitere Kunstform geschaffen, die „Tanzoper“. Die Oper „The Fall of the House of Usher“ von Philip Glass wird in Nürnberg in ihrer Originalfassung aufgeführt, also einschließlich szenisch agierender Sänger, und sie wird gleichzeitig durch Tänzer bereichert, ergänzt, zu einem wirklichen Gesamtkunstwerk, das sowohl als Tanzstück, wie als Opernaufführung fraglos sensationell ist.

Derlei ist bereits mit unterschiedlichem Erfolg versucht worden, unter anderen von Maurice Béjart mit seiner unsäglichen „Zauberflöte“ und vor sechs Jahren von Christof Loy in Stuttgart mit der gelungenen Freilichtproduktion eben dieses „Usher“, bei der die Choreografin Jacqueline Davenport zwei Tänzer erläuternd einsetzte.

Aber Kurzens Arbeit ist die erste originäre Synthese beider Kunstformen, eine in sich geschlossene Deutung. Bei ihr öffnet der Tanz sozusagen die Gehirne der Personen und lässt das Publikum das schauen, von dem die Musik, der Gesang und die Handlung nur berichten. Am erstaunlichsten: Dieser „Usher“ ist nicht etwa ein intellektuelles Bilderrätsel, sondern ein über die Maßen spannendes und erregendes Gruselstück vom Abdriften eines Menschen in eine andere, irreale Welt.

Die sehr frei nach Edgar Allan Poes gleichnamiger Shortstory geschriebene Oper erzählt von Roderick Usher, der seinen Jugendfreund William zu sich ins Schloss bittet, damit er ihm Beistand leistet im Ringen gegen seine Depressionen und die Einflüsse seiner, möglicherweise imaginären, sterbenden Schwester Madeline. Am Ende verlieren beide den Kampf. Die junge Ausstatterin Benita Roth hat eine sich ständig verändernde Bühne aus finsteren Vorhängen und einem riesigen Zimmer geschaffen, an dessen Wänden Rodericks purpurne Bilder hängen – er kann wegen seiner übersteigerten Sensibilität nur noch in einer Farbe malen.

Hier vollzieht sich sein Schicksal. Er ist umgeben von tanzenden, dunklen Nachtmahren, die immer häufiger die Gestalt seiner Schwester annehmen. Was immer Roderick tut, selbst wenn er ein Bild aufhebt, dann quellen sie wie Käfer und Würmer unter Steinen hervor, bedrängen ihn, ergreifen von ihm Besitz. Zwar gelingt es William anfangs noch, den Freund in die Wirklichkeit zurück zu zerren, dann werden die tanzenden Gestalten wieder er selbst. Aber Roderick stürmt geradezu dem Abgrund entgegen. Madeline, zunächst nur durch Vokalisen präsent, erscheint schließlich als reale Person. Roderick wird schließlich seine Schwester und fällt in den endlosen Taumel einer völlig aus der Balance geratenden Welt.

Das ist glänzend besetzt. In Eberhard Lorenz, als Stuttgarter „Rheingold“-“Mime“ in bester Erinnerung, hat die Aufführung einen virilen, körperlich und stimmlich unerhört packenden Sängerdarsteller großen Formats, Song-Hu Liu als entgeistert hilfloser William steht ihm darin kaum nach, und Siphiwe McKenzie ist als Madeline eine dämonische Sirene, die um ein Haar auch das Publikum um seinen Verstand bringt.

Daniela Kurzens Bewegungsvokabular enthält sich aller vordergründigen Dramatik und Symbolik, sondern wirkt mit seiner schrecklichen Klarheit wie ein choreografisches Spinnengewebe, das seinen Protagonisten das Herz auspresst. Derrick Inouye dirigiert die Nürnberger Philharmoniker zu einem fiebernden Soundtrack, der jedem Hitchcock-Film Ehre machen würde.

Diese Tanzoper, vom Publikum mit Jubel geradezu überschüttet, ist ein singuläres Bühnenereignis, das selbst weite Reisen rechtfertigt. Daniela Kurz hat sich mit ihm nicht nur erneut als eine formidable und ungemein sensible Choreografin erwiesen, sondern auch als Opernregisseurin mit einem eminenten Gespür für Bühnenwirkung. Mit dieser Kreativität nimmt das Nürnberger Ballett ohne Zweifel eine bundesweite Sonderstellung ein.

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