Saisonrückblick Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 31/07/2000

Der große Erfolg mit der Wiederaufnahme von Marcia Haydées in jeder Beziehung prachtvollem „Dornröschen“ an ihrem Ende kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Stuttgarter Ballett eine eher durchwachsene Spielzeit hinter sich hat. Wenn die Truppe mehr sein will, als nur eine brillant tanzende Compagnie, wenn sie also der Ballettwelt Impulse verleihen, wenn sie wieder, wie früher, die Richtung bestimmen will, wenigstens in Deutschland, wie etwa Frankfurt, Hamburg oder neuerdings sogar Nürnberg, dann allerdings war ihre soeben beendete Saison sogar ein Fehlschlag. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht das Stuttgarter Ballett entweder einen „Hauschoreografen“ von Rang, der die künstlerische Richtung bestimmt. Ihn zu finden, hatte Ballettintendant Reid Anderson bei seinem Amtsantritt vor vier Jahren als eines seiner wichtigsten Vorhaben bezeichnet.

Heute antwortet er auf einschlägige Fragen lächelnd, Talente seien halt dünn gesät, und man würde es schon erfahren, wenn er eines gefunden hätte. Oder die Compagnie muss für die erste Riege der internationalen Choreografenschaft so attraktiv werden, dass sie sich wieder darum reißt, für Stuttgart Uraufführungen zu schaffen. Doch davon kann keine Rede sein. Also behilft sich Anderson notgedrungen mit Übernahmen und Wiederaufnahmen bewährter Stücke, heuer mit dem brillant getanzten „Theme and Variations“ von Balanchine, Ashtons Knaller „La fille mal gardée“ und „Dornröschen“, hält für Uraufführungen nach jungen Talenten Ausschau, findet aber nur schlechte Nachahmer vom Schlage Pascal Touzeaus („Jupiter“) und Trey McIntyres („The Difference Between Naked and Nude“), oder kauft mit grotesker Geschmacksverwirrung künstlerische Billigware wie das unsägliche „Désir“ seines kanadischen Freundes James Kudelka ein. Letzteres ging sogar dem wahrlich geduldigen Stuttgarter Publikum so auf die Nerven, dass es einfach wegblieb und Anderson wegen Zuschauermangels eine ganze Aufführungsserie absagen musste. Dass er sich nicht entblödete, der Presse die Schuld an diesem Desaster zuzuschieben, spricht nicht gerade für die Lernfähigkeit des Ballettchefs.

So bleibt als einziger choreografischer Lichtblick Christian Spucks exzellentes „Das siebte Blau“, das aber leider, nach nur wenigen Aufführungen, mit Kudelkas und McIntyres Opera in der Versenkung verschwand. Was jedoch die tänzerische Qualität der Truppe angeht, so kann man vor Andersons und seiner Ballettmeister Arbeit nicht tief genug den Hut ziehen. Dass während der gesamten Spielzeit die wichtigen Solisten Yseult Lendvai (Schwangerschaft), Sue Jin Kang und Roland Vogel (Verletzungen) ausgefallen sind, alle werden in der nächsten zum Glück wieder tanzen, hat die Compagnie scheinbar mühelos weggesteckt und große Talente der „zweiten Reihe“ in die erste geschickt, wo sie sich blendend gemacht haben. Roberta Fernandes, Patricia Salgado, Diana Martinez Morales, Filip Barankiewicz, Ivan Gil Ortega und Thomas Lempertz seien nur als wichtigste genannt. Und wie sich die Solisten Julia Krämer, Bridget Breiner und Robert Tewsley entwickelt haben, das lässt der nächsten Saison geradezu entgegenfiebern. In ihr sieht es übrigens künstlerisch weniger mau aus, jedenfalls lassen das Erstaufführungen wichtiger Werke von George Balanchine, Jerome Robbins, John Neumeier und William Forsythe, sowie neue Ballette von Kevin O‘Day, Christian Spuck und Douglas Lee hoffen. Und die Neuinszenierung des Klassikers „Don Quijote“ durch Maximiliano Guerra im Dezember weckt ebenfalls große Erwartungen.

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