Ein philosophisches Märchen aus Fernost

Arthaus Musik bringt Kyliáns „Kaguyahime. The Moon Princess“ neu heraus

Arthaus Musik, 19/07/2012

/img/redaktion/kaguyahimedvd.jpg Neben „La Chauvre-Souris“, „Raymonda“ und „Car Men“ ist Jiří Kylián noch mit „Nederlands Dans Theater celebrates Jiri Kylián (Bella Figura)“ in der Ballett-Reihe bei Arthaus Musik vertreten. Nun schließt sich die Reproduktion von „Kaguyahime. The Moon Princess“, eine moderne Tanzadaption des populären japanischen Märchens, an. Kyliáns knapp 70minütiges Stück, das während einer Aufführung des Nederlands Dans Theater 1994 aufgezeichnet und 2001 unter der Regie von Hans Hulscher produziert wurde, reicht bis ins Jahr 1988 zurück. In diesem Jahr feierte es seine Premiere als Kyliáns erstes abendfüllendes Ballett. Nichtsdestotrotz hat die moderne Interpretation des tschechisch-niederländischen Choreografen nicht an Aktualität und Brisanz eingebüßt. Kylián fährt bewusst nicht im Fahrtwasser üppig-überladener und bisweilen kitschiger Märchenvertanzungen im Stile des klassischen Balletts. Sein Interesse gilt mehr der philosophischen Essenz der vieladaptierten Volkserzählung aus Japan.

In einer wunderbar klaren, dramaturgisch kohärenten Komposition aus Musik, Tanz und Bühnenkunst entspinnt sich die Geschichte um das junge Mädchen Kaguyahime und ihre strahlende Schönheit. Diese spricht sich im ganzen Lande herum und zieht u.a. fünf adelige Verehrer an, die jedoch alle an Kaguyahimes Klugheit und aufgrund ihrer eigenen persönlichen Schwächen scheitern. Selbst der Kaiser kann die unerreichbare Schöne nicht in seinen Besitz bringen. Kaguyahime ist nicht für ein irdisches Dasein bestimmt. Als ein Geschöpf des Mondes kehrt sie dahin zurück. Da das Märchen aus Fernost die Wechselwirkung von Erde und Mond betont, übersetzt Kylián dies seinem Ballett mit einer Untrennbarkeit von Tanz und Musik. Die Partitur von Dirigent und Komponist Maki Ishii verbindet westliches Schlagwerk mit japanischen Trommeln und Holzblasinstrumenten der traditionellen japanischen Hofmusik Gagaku. Die rhythmische Kraft entfaltet das circle ensemble. Das teils traditionell gekleidete Perkussion-Kollektiv wird immer wieder von der Kamera eingefangen. Dass der akustischen Komponente in „Kaguyahime“ auch visuell viel Raum gegeben wird, wird immer wieder deutlich. So fungieren Musikinstrumente wie die große japanische Trommel zum einen als Teil des aktiv genutzten Bühnenarrangements, zum anderen als für die Interpretation bedeutendes, da symbolisches Requisit. Und auch die Musiker stürmen die Bühne als diese zum Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzung mutiert.

Auch das ausgeklügelte Bühnen- und Lichtkonzept von Michael Simon entspricht durch seine feinnuancierte Illuminierung Kyliáns abstrakter und klarer Bewegungssprache. Kreative Lichtarchitekturen erzeugen geometrische Formen und stimmungsvolle Atmosphären, laden das Bühnengeschehen symbolisch auf. So erweckt grelles blendend-weißes Licht, das durch lange Vorhang-Lappen hindurch fällt, den Eindruck, als ob weiße lange Lanzen in die Dunkelheit hineinstechen, was den tänzerisch überzeugend dargestellten Stammeskonflikt im 1. Akt optisch verstärkt.

Mit ihrer Kostümkreation unterstreicht auch Férial Simon Kaguyahimes kosmische Reinheit. In dem weißen, mit glitzernden Pailletten besetzten Trikot zeichnen sich die anmutigen Bewegungen von Fiona Lummis formschön ab. Jene verkörpert, begleitet vom Flöten- und Glockenspiel, die Protagonistin mit charismatisch-unnahbarer Ausstrahlung. Ihr gegenüber positioniert Kylián die selbst- und fremdzerstörerisch agierende Bevölkerung, die weiter in ihr Besitzdenken und ihre Feindseligkeit versinkt, nicht empfänglich ist für Kaguhayimes Bemühungen wahre Werte zu vermitteln. Musikalisch finden die Bewohner und Krieger ihre Entsprechung in der japanischen Trommel- und Schlagwerkkunst. Die Gruppenpassagen überzeugen durch ihre choreografisch-dramaturgische Anordnung wie durch tänzerisch anspruchsvolle Leistung. Diese verlangt der Choreograf in sowohl schnellen, hüpfenden, bodennahen und emotionsgeladenen Bewegungen, die eklektisch gespickt sind mit (neo-)klassischen wie modernen Versatzstücken. Kaguyahimes Verehrer (Martin Muller, Ken Ossola, Johan Inger, Patrick Delcroix und Glenn Edgerton), die sich kinästhetisch zu übertrumpfen versuchen, zeichnen sich durch ein kraftstrotzendes, expressives Bewegungsrepertoire aus. Der dominante Kaiser Mikado (Paul Lightfoot), der aus einem riesigen, wogenden Baldachin aus goldener Seide entstiegen ist, beginnt sich in einem spannungsgeladenen Duett der sträubenden Mondprinzessin zu bemächtigen. Gegen Ende wirken auch Kaguyahimes Bewegungen angestaut, was sich in den entladenden, nervös-hektischen Winkelung und Streckungen äußert.

Dem damaligen NDT-Leiter Kylián gelang es vor über 20 Jahren, die universelle Frage nach der Berechtigung menschlicher Existenz in einen zeitlosen Kontext zu stellen. In seiner „Kaguyahime“-Adaption verweist Kylián auf die kultur-und epochenübergreifende Menschheitsgeschichte und konfrontiert uns heute, in Zeiten von Finanzkrise und Kapitalismus, mit dem Scheitern von sozialverträglichem Verhalten. „Kaguyahime“ ist ein konzentriertes und kontrastierendes Ballettstück, genussreich und für jeden geeignet, der sich durch den philosophisch-meditativen Aspekt der japanischen Erzählung erden und von der würzigen Mischung aus westlichen und fernöstlichen Elementen kosten möchte.

„Kaguyahime. The Moon Princess“ ist bei Arthaus erschienen und als DVD ab ca. 29,99 EUR bzw. als Blu-Ray ab ca. 42,99 EUR erhältlich.
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