Reich beschenkt

Christian Spucks Abschiedsgala beim Stuttgarter Ballett

Stuttgart, 10/07/2012

Und diesmal sah man noch genauer hin, als das Volk applaudierte. Das Stuttgarter Ballett und sein Publikum sind auch dafür bekannt, in wichtigen Momenten der Kompaniegeschichte starke Gefühle zu zeigen. Samstagnacht war es wieder soweit. Christian Spuck verabschiedete sich in einem Regen von Luftballons und Papierschlingen von seiner Kompanie, um in der Nachfolge von Heinz Spoerli seinen Posten als Direktor des Zürcher Balletts anzutreten. Sechzehn Jahre gehörte der gebürtige Marburger dem Stuttgarter Ballett an, die ersten Jahre davon als Gruppentänzer, eingestellt von Marcia Haydée, die dem wegen Abipflichten späten Absolventen der John Cranko-Schule noch ihren letzten Vertrag als Direktorin ausgehändigt hatte. Ab Juni 2001 firmierte Spuck nach seinen ersten überzeugenden choreografischen Arbeiten bei der Noverre-Gesellschaft und im Kleinen Haus als Hauschoreograf und brachte es in dieser Funktion auf die bislang meisten Jahre. Keiner wartete so lange, bis er den Sprung auf den Chefsessel unternahm.

Derjenige, der nun ging, stand, wie schon bei seiner letzten Uraufführung für die Kompanie im Februar, „Das Fräulein von S.“, ziemlich gelöst, präsent, erfreut und in sich ruhend da, fest dabei im Arm die Ersten Solisten Katja Wünsche und William Moore, die mit ihm in die Schweiz ziehen werden. Ihm gegenüber ein trauernder und zugleich stolzer Ziehvater Reid Anderson. Einer der wenigen ganz großen Förderer von Choreografen weltweit, der das Stuttgarter Ballett gerade durch dieses Engagement auf vitale Weise permanent in der Gegenwart verankert und Christian Spucks Karriere maßgeblich flankiert und gefördert hat. „Made in Stuttgart“ sei derjenige, betonte er stolz und zu Recht.

Doch wer ging da eigentlich, wen verliert das Stuttgarter Ballett, wie Anderson sich ausdrückte, und welchen Entwurf als Künstler von sich selbst präsentierte Christian Spuck im Rahmen der von ihm allein zusammengestellten Abschiedsgala? – Hier ging zunächst einer, der über die Jahre zum Gesamtkunstwerk des Handlungsballetts gefunden und es, wie nach ihm Marco Goecke mit „Orlando“, mit neuen Inhalten und zeitgenössisch inszeniert für das Stuttgarter Ballett aktualisiert hat. So ließ Spuck seine Kollegen mit Bravour Ausschnitte aus „Lulu. Eine Monstretragödie“, seinem ersten Wurf aus dem Jahr 2003, aus „Leonce und Lena“, seiner ausgefeilten Interpretation des Büchner-Klassikers, sowie den zweiten Akt von „Das Fräulein S.“ tanzen. Sein stilvoller und souveräner Umgang mit der Gruppe und seine Stärke, den Tanz im vielschichtigen, sich wie ein Kaleidoskop verschiebendes und atmosphärisch prägnanten Tableaux aus gleichzeitig ablaufenden Duetten, Soli, Reihen und Teilgruppen entstehen zu lassen, traten ebenso deutlich zutage wie die Melancholie berührte, die ihn - wie vor allem „Das Fräulein von S.“ oder auch der Ausschnitt aus „das siebte blau“ zum Ausdruck brachten - intensive Tanzbilder im Zwielicht von Realität und Traum, quasi im Dämmerlicht des Seins schaffen lassen. Auffallend dabei: Man konnte Spuck als klassischen Verehrer der Ballerina entdecken, die tanzende Solistin, allen voran Katja Wünsche und Alicia Amatriain, im Zentrum eines zuweilen ausschließlich von Männern getanzten Feldes. Spuck zeigte sich dabei als Verehrer der klassischen Bewegungsform im Echo Forsythes aus den 90er Jahren, der er im Laufe der Zeit eine eigene Handschrift abgerungen hatte: ein hoch gehaltenes oder den Körper umschlingendes Port de Bras bei gleichzeitiger, moderner Flexibilisierung der Füße oder des Rumpfes.

Dass das Stuttgarter Ballett auch einen großen Komödianten mit handfestem Sinn für Slapstick verliert, offenbarten erneut nicht nur der von ihm selbst geschaffene „Grand Pas de deux“, den diesmal Alicia Amatriain und Jason Reilly durchleben durften, eine ironische und zugleich fein aufgearbeitete Referenz an Petipas Erbe, oder ein Ausschnitt aus „Don Q.“ für Eric Gauthier, Egon Madsen und Gauthier Dance, sondern auch seine Einladung an Itzik Galili und dessen Trio „Sofa“, einer witzig mit den Klischees von Mann und Frau spielenden Studie des alten Spiels vom Wollen und Ablehnen des anderen. Überhaupt zeigte sich Spuck bei seiner Gala auch im Kontext seiner aktuell das europäische Repertoire mitprägenden Zeitgenossen. Liebe, Tod und Form bilden dabei das thematische Dreieck, in dem sich auch Spuck kontinuierlich dramaturgisch aufhält.

Neben Marco Goecke, dem zweiten Hauschoreografen des Stuttgarter Balletts, dessen existenziell tief berührendes Männersolo „Äffi“ zu Songs von Johnny Cash, grandios getanzt von William Moore, das Publikum begeistert aufschreien ließ, eben Galili, aber auch Mauro Bigonzetti, Demis Volpis und Louis Stiens, gilt Spucks Bewunderung sichtbar Douglas Lee. Dieser hatte als einziger für die beiden Ersten Solisten Katja Wünsche und William ein Duett geschaffen – ein umwerfendes Meisterwerk namens „Aria“, das angesichts des hohen Grads an Differenziertheit, mit der Lee Bewegungsabläufe aus dem Ballettkörper herausmodellierte und zu immer neuen skulptural definierten Bewegungsmustern fand, schlicht betörte. Warum nicht mit ihm die große Form wagen, jetzt wo Spuck mit den Ausnahmetänzern Wünsche und Moore in Zürich zu neuen Ufern aufbricht und seine Stuttgarter Freunde so reich beschenkt ihren eigenen Weg gehen lässt?

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