Spurensuche in Den Haag

Tanzabend „Traces“ des Nederlands Dans Theater mit Werken von Goecke, Kylián und Pite

Den Haag, 14/02/2012

Der Himmel in Marco Goeckes neuem Stück ist grau und wolkenverhangen. Das hinten hängende Wolkenbild ist riesig und geht über in eine Rampe, die einen dahinter liegenden Freiraum verbirgt. Davor schlagen die Vögel ihre Flügel. Sie recken ihre Köpfe, rucken die Torsi nach rechts und links, schwirren von hinten an oder stieben zur Seite im Schwarm davon. Zumindest fantasiert man solche Bilder beim Anblick der Körper in den schwarzen Schlaghosen mit hoch aufgestellter Bauchbinde. Erneut wird man gewahr, worin sich Goeckes Arbeiten von anderen Arbeiten unterscheiden. Die Körper, die Goecke bearbeitet, passieren quasi die Grenze der theatralen Darstellung. Sie transformieren sich zu etwas Anderem, materialisieren sich in der Wahrnehmung des Zuschauers als jenes viele andere oder bringen hervor, was Goecke vielleicht durch den Kopf geschossen sein mag, durch den Bauch, das Herz, als er sich ans Kreieren machte, aber auch und vor allem als jenes, was in einem selbst frei gesetzt wird: Auf den Boden platschende Regentropfen zum Beispiel, der Husten eines Rauchers, die Geste einer Diva, selbstbewusstes Einzelgängertum, ein am Himmel kreisender Drache, eine Rauchwolke aus den Lungen aufsteigend. Jeder hat hier sein eigenes Erlebnis mit der Wirkung jener Bewegungssprache, für die Goecke weltberühmt geworden ist: das kleinteilige und oft wiederholte Zergliedern des Bewegungskörpers und seiner Achse bei meist aufrechter Haltung, und zwar auch dann − das ist einer der schönsten Momente − wenn die Tänzer plötzlich am Boden liegen und wie Käfer auf dem Rücken gen Himmel zappeln. Wo das immer alles herkomme, frage er sich auch manchmal, sagt er. Die Einladung zum NDT habe ihn sehr geehrt, fügt er später hinzu, und in der Tat: Die Begegnung von Goeckes neuestem Werk mit der Arbeit Jiří Kyliáns, hier das Solo „Double You“ aus dem Jahr 1994, getanzt von Medhi Walerski, und der choreografischen Ambition von Chrystal Pite mit dem Titel „Solo Echo“, zusammengfasst unter dem Abend „Traces“ – „Spuren“ ist spannend.

Goecke nennt sein neues Ballett „Garbo Laughs“, ein Titel, der ihm gefällt. So habe man die neuen Filme von Greta Garbo ankündigen wollen, damit sie auch wirklich ihr Publikum erreichen, nachdem immer mehr weggeblieben seien, weil die Garbo bis dato immer in sehr ernster Stimmung zu erleben war. Garbo also heiter bis wolkig zu ihrer besten Stummfilmzeit, zudem die Tatsache, dass sie viel geraucht hat, ihre Lebenswelt zwischen Filmstudios und Salons und trotzdem eine Einzelgängerin, eine sich Zurückziehende, eine Eigene, das sind die Ingredienzen, aus denen sich Goeckes „Garbo Laughs“ zu György Ligetis „Métamorphoses nocturnes“ erhebt. Dazwischen eine Einspielung von „Confessions Blues“ von Ray Charles. Das Grundthema und choreografischer Aufbau bleiben bei Goeckes Arbeiten jedoch immer gleich, auch wenn das thematische Assoziationsfeld wechselt.

So startet Carolina Mancuso das Bewegungsfeld, bald reihen sich synchron vier, fünf weitere dazu, schnell pulvert angesichts der vielen Bewegungsaktionen Energie in den Raum, die einen gehen ab, die anderen kommen. Durchgehend: Körper, aus denen etwas oder jemand raus will, schmerzhaft sichtbar an dem fantastischen Solo für Jorge Nozal, der bis in seine muskulären Tiefenschichten vordringt. Überraschend dann, wie weich, verbunden, ungebrochen und auch gelassen sich im Vergleich dazu Kyliáns Bewegungstext las. Die Verbindung zwischen dem Älteren und Jüngeren war dennoch sowohl auf der Bewegungsebene als auch bezüglich der Komplexität, mit der beide den Menschen in ihren Stücken befragen, frappierend. Nur kam es bei Kylián zu kleinen Momenten der Repräsentation, die sich in Goeckes Arbeit aufgelöst hatten. So schwangen zwei riesige Pendel in Kyliáns Solo im Bühnenhintergrund. Vor ihnen gab sich Walerski hinein in die existenzielle Erfahrung der beiden Pole Sehnsucht nach Transtendenz und Wissen um die Sterblichkeit des eigenen Körpers und der in diesem Zusammenhang auftretenden Ängsten. Beeindruckend, wenn auch noch nicht im Innern ausbalanciert, Chrystal Pites „Solo Echo“ für sieben Tänzer, inspiriert von zwei Sonaten aus der Feder von Johannes Brahms: Das „Allegro Non Troppo“ und das „Aagio Affectuoso“. Bewegungssprachlich bildete ihr Stil das Gegenstück zu Goeckes und Kyliáns Ästhetiken: markig, modern, athletisch, nach außen strebend, viel Boden, dynamische Flüsse mit viel virtuosen Einfällen für Details, die die einzelnen Bewegungen unberechenbar und damit zum Genuss machten.

Die Story schälte sich erst langsam heraus. Was effektvoll abstrakt in einem von der Decke rieselnden Nachtschnee begann, endete in einer eindeutigen, dramatischen Darstellung von Kriegs- und Verlustszenen. Wozu dient der Tanz zu welchem Zeitpunkt? Wenn die dem NDT assoziierte Choreografin diese Frage klärt, würde das Stück noch mehr zwischen den Polen von inhaltlicher Ambition und Bewegungsinteresse schweben können, einfach durchlässiger werden.

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