Magdalena Stoyanova und Attila Hündöl
Magdalena Stoyanova und Attila Hündöl

Ein Tanzstück voller Leichtigkeit und Tiefgang

Hagit Yakiras und Tarek Assams Premiere von „Anna Blue“ auf der Gießener TiL-Studiobühne

Gießen, 13/12/2011

Es gehört zum Konzept von Tarek Assam, Ballettdirektor am Stadttheater Gießen, immer wieder Gastchoreografen einzuladen, mit denen er gemeinsam ein Tanzstück inszeniert. Dadurch sind schon viele interessante Variationen entstanden und es erhalten auch Choreografen der internationalen freien Szene die Chance, an einem deutschen Stadttheater zu inszenieren. Nachdem im Frühjahr Massimo Gerardi die „Puppentänze“ frei nach E.T.A. Hoffmann umgesetzt hat, ein Stück das die latente Gewalt gegen und Manipulation von Menschen zum Thema hatte, ist nun mit „Anna Blue“ von Hagit Yakira und Assam ein geradezu gegenläufiges Stück entstanden. Es ist geprägt von Binnenschau und dem behutsamem Umgang miteinander.

Hagit Yakira, die israelische Choreografin vom Laban-Center in London, war bereits zweimal mit eigenen Stücken in Gießen zu Gast, jeweils bei der TanzArt ostwest. Sie habe sich sehr über die Einladung gefreut, erzählte sie gut gelaunt im Vorgespräch, und war dann überrascht von dem schnellen und konzentrierten Arbeiten an einem Stadttheater. Insgesamt hatte sie gerade einmal vier Wochen Zeit für das Kennenlernen aller Beteiligten und die Erarbeitung Stücks. Sonst lasse sie sich ein Jahr Zeit für das Erarbeiten einer neuen Produktion.

Mit „Anna Blue“ ist keine Person gemeint, sondern der gleichnamige Schmetterling. Dieser steht für Freiheit, jedenfalls in dem Roman von Henri Charrière und dem darauf basierenden Kinofilm „Papillon“ (mit Steve McQueen als Gefängnisinsassen). Zu dieser Motividee von Tarek Assam gesellten sich schnell Elemente wie Glück und Einsamkeit sowie Gefängnis und Unfreiheit. Große Worte und große Gefühle, die Hagit Yakira in ihrer freundlichen und bestimmten Art auf menschliches Maß heruntergebrochen hat. Die vier Mitglieder der Tanzcompagnie Gießen (TCG) – Edina Nagy, Mamiko Sakurai, Magdalena Stoyanova und Christopher Basile – sollten zunächst ihre eigenen Ideen dazu entwickeln. Was diese offensichtlich voller Offenheit und Wagemut getan haben, das Stück lebt von der persönlichen, fast intimen Atmosphäre.

In das Bühnengeschehen integriert ist der Musiker Attila Hündöl, Cellist beim Philharmonischen Orchester des Stadttheaters. Er wählte solche Cello-Stücke aus, die den Tanzenden möglichst viel Spielraum für ihre Rhythmen und Interpretationen lassen. Aber auch er bekommt Freiraum für sein gefühlvolles und präzises Spiel, es gibt Passagen, während der ihm alle zuhören.

Das Tanzstück hat schon begonnen, wenn das Publikum hereinkommt. Die fünf sind völlig in ihr spielerisches Tun vertieft. Wie in einen Kokon gehüllt zuckt einer hin und her, stöhnt dabei laut ins Mikrofon und die anderen schauen zu; sie geben nur am Ende Hilfestellung, wenn er sich aus der Hülle befreien will. Von der Decke hängen verknitterte Bettlaken, sie vermitteln eine Ahnung von einem Bühnenvorhang (Bernhard Niechotz). Der Cellist hat einen gar zwischen sich und seinem Instrument, muss quasi blind spielen.

Plötzlich ertönt eine weibliche Stimme aus dem Off. Die Choreografin gibt auf Englisch Anweisungen, erkundigt sich nach dem Befinden der Tänzer/innen, nennt sie dabei alle bei ihrem realen Vornamen. Sie ermuntert zu eigenständigem Denken und Körperausdruck, bleibt hartnäckig am Ball mit ihren Fragen. Heißt es am Anfang noch freundlich „Dancers, show me happiness and freedom“, so werden ihre Anweisungen bald fordernd, auch mal schrill, und treiben die Tanzenden bis zur atemlosen Erschöpfung an. Dann wieder lässt sie ihnen die Pause zum Rückzug und Beobachten.

Es gibt einzelne Szenen, die im Gedächtnis haften. Die drei Frauen, die anfangs den Schmetterling (das Glück) fangen wollen und dabei leichtsinnig auf den Stühlen wanken; der einzige Mann im Team hat seine liebe Not alle vor dem Absturz zu bewahren. Mamiko ist bezaubernd in ihrer Glückseligkeit und wird von Chris behutsam getragen und gestützt, sogar die Wand kann sie mit ihm hochlaufen. Symbolischer kann das Bild des beflügelnden Glücks (durch Liebe?) wohl kaum sein. Es gibt auch Szenen der Verzweiflung, das Anrennen gegen Wände, das Fallen und immer wieder Aufstehen. Und es gibt das sehnsuchtsvolle sich Annähern an etwas oder jemand, das Magdalena im beruhigenden Klang des Cellos findet. Edina gibt sich einsam und scheu, geht erst nach mehrfacher Aufforderung etwas aus sich heraus. Doch sie bleibt Einzelgängerin, auch wenn sie behutsam näher rückt, während die anderen Drei sich am Ende wie in einem großen Knäuel über den Boden wälzen.

Es ist ein Tanzstück voller Leichtigkeit und Tiefgang geworden, das durch seine Empathie berührt. Lang anhaltender und sofort durch Trampeln, Rufe und Pfiffe verstärkter Applaus belohnte diese außergewöhnliche Darbietung.

Weitere Aufführungen: 16. Dezember 2011 und 14. Januar 2012.

www.stadttheater-giessen.de
www.tanzcompagnie.de

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern