„Nussknacker“ mit Senioren

„Nussknacker“ mit Senioren

„Nussknacker“ mit Senioren

Olaf Schmidts neues und letztes Handlungsballett für das Ballett Regensburg

Regensburg, 08/11/2011

Sie wissen nicht mehr wie es geht und wie man sich unter Erwachsenen verhält. Die Herren stehen auf und bitten die Damen zum Tanz. Doch die winken ab. Sitzen in weißen Kleidern wie alte, aufgeschwemmte Bräute auf den Stühlen am linken Bühnenrand, die Mundwinkeln hängen nach unten, von Nettigkeit keine Spur, nur die Haare glänzen schön, dabei hat wohl jemand geholfen. Die Willis sind im Altenheim gelandet und Alzheimer ist auch dabei. In den Hirnen hat er sich schon breit gemacht, die Fähigkeit zur Liebe zwischen zweien noch vor dem Tod malträtiert, Giselle durfte nicht, und sie können nicht mehr. Deshalb wedeln sie mit der Hand wie Kinder und lachen die Herren, die vor ihnen stehen, aus. Zwei Mal geht das so, auch andersrum, bis sie ein jüngeres Paar sehen, das gerade tanzt. Der Walzer, zu dem es dann wegen der paar Erinnerungen, die noch da sind, kommt, dämmert im unsicheren Geschiebe der Füße auf, auf die der Blick der sich aneinander fest haltenden Menschen gerichtet ist. Ein Paar hält am längsten durch, staunend gucken die anderen zu, danach Abgang, zurück ins abgeschottete Leben im Heim, wo die Menschen verwahrt, strukturiert und versorgt werden, ohne dass es groß zu inneren Begegnungen zwischen den Generationen kommen würde.

Es ist ein bekanntes, doch trotz allem oft verborgenes, schmerzhaftes und verstörendes Bild unserer Gesellschaft, das Olaf Schmidt in seinem neuen und letzten Handlungsballett für das Ballett Regensburg ins Gedächtnis ruft. Es macht noch einmal deutlich, was der Ende der laufenden Spielzeit scheidende Ballettchef in Regensburg in den vergangenen acht Jahren geleistet hat: aus dem sogenannten narrativen Erbe des klassischen Tanzes heraus Abendfüller zu kreieren, die Zeitgeschehen kommentieren, Gesellschaft beleuchten, Tabus berühren und auf diese Weise in Abgründe der Zivilgesellschaft blicken, kurz: überall dahin, wo die respektvolle Liebe nicht mehr das Handeln antreibt, sondern ihre Abwesenheit: Sexuelle Misshandlungen innerhalb von Familien („Dornröschen“), Liebe, die in den Wahnsinn führt („Romeo und Julia“), hochgradige Eitelkeiten, wie sie in der Mode- und Medienwelt gepflegt werden („Schwanensee“), Männerwelten, die Frauen nicht zulassen („Carmina Burana“). Jetzt das Thema Erinnern und Vergessen, zwei Phänomene, die Schlüsselmerkmale des Tanzes sind.

Tanz und Tanzen entwickeln mehrfache Identitäten, bilden diese ab, verweisen auf vergangene und sind gleichzeitig auf Metaphern für das Gegenwärtige und Vergehende. Auf der Bühne hat das eindrücklich vor gut einem Jahr Helena Waldmann in ihrem Stück „revolver besorgen“ vor Augen geführt, ihrem wertvollen Solo für Brit Rotemund über eine Balletttänzerin, die sich durch den Gedächtnisverlust selbst verliert und wieder zum Kind wird. Olaf Schmidt stößt in dieselbe Richtung, nur nimmt er mit „Nussknacker“ noch eine weitere Erzählebene hinzu. Die im Kopf der Zuschauerin dadurch ausgelöste Vervielfachung der Erzählungen führt dabei manchesmal an intellektuelle Grenzen.

Rasch, doch nach einem sehr guten Timing, erfolgt der Wechsel in den Erzählebenen: In weißen Jeans und Oberteilen tanzt die Kompanie die Jugend, wechselt dann rasch in die Rolle des Pflegepersonals, Szenen mit den Regensburger Senioren schieben sich dazwischen. Einmotiert: Die Schlüsselmotive des Ballettklassikers, der sich dabei selbst reflektiert: Das Mädchen Klara, das von Drosselmeyer den Nussknacker als Geschenk erhält, der Kampf mit dem Mäusekönig, schließlich das Verbleiben von Klara in einer Traumwelt. Virtuos verschachtelte Schmidt zusammen mit seiner Dramaturgin Christina Schmidt die verschiedenen Motiv- mit Zeitebenen. So ist eine der Alten im Heim die gealterte Klara, die ihren Prinzen geheiratet hat, an den sie sich aber kaum mehr erinnern kann, auch wenn er vor ihr steht. Jener war, wie viele alte Menschen heute, ebenfalls im Krieg. „Nussknacker“ taucht gleichzeitig als Stück im Stück, als Vorstellung eines Kinderballetts auf. Dementsprechend entstehen Räume für unterschiedliche Bewegungssprachen: Hier eine Zitation und respektvolle Erinnerung an Petipas und Iwanows Uraufführung von 1892, indem das klassische Bewegungsvokabular präsentiert wird; dort Schmidts typische Verbindung von modernem mit klassischem Material, sobald Erwachsene, nicht mehr das Kind, noch nicht der alte Mensch, agieren.

Auch wenn im Programmheft versucht wird, eine lineare Erzählung und deutungsweise in Schmidts Wurf zu suggerieren („Die Jungen tanzen die Erinnerungen der Alten“), entsprechen diese nur zu einem kleineren Teil der Wahrheit dieser Aufführung. Diese geht stattdessen auf wie ein Kuchen, da sie unmittelbar jeden Einzelnen allein durch die Darstellung und Thematisierung der Lebensalter zu erreichen vermag. Und ganz viel schönen, dahinwehenden Tanz gibt es noch dazu. Die Regensburger trampelten mit den Füßen und Schmidt atmete beim Verbeugen sichtbar erleichtert aus.

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