Boris Charmatz’ „Enfant“
Boris Charmatz’ „Enfant“

Gewalttätige Tristesse

Deutsche Erstaufführung von Boris Charmatz’ „Enfant“ beim Kampnagel Sommerfestival in Hamburg mit dem Musée de la Danse aus Rennes

Hamburg, 24/08/2011

Was mag in einem Choreografen vorgehen, wenn er ein Stück auf die Bühne bringt, das 75 Minuten lang ununterbrochen Düsternis, Trostlosigkeit und Verzweiflung ausstrahlt? Eine Szenerie, in der neun Erwachsene nebeneinander herstolpernd verzweifelt nach Kontakt und Beziehung suchen, von Tanz mag man da nicht sprechen. Was mag einen Choreografen bewegen, dafür auch noch Kinder im Alter zwischen 6 (oder weniger?) und 12 Jahren einzusetzen, sie einer aggressiven und voluminös-bedrohlichen Geräuschkulisse auszusetzen und zum willenlosen Objekt der Erwachsenen zu machen, bis sich das Ganze am Schluss schließlich umkehrt und nun die Kinder die Großen imitieren: Menschen als Verschiebemasse benutzen, sie hin- und herziehen, auf ihnen stehen, über sie hinweggehen.

Es ist schwer verdauliche Kost, die Boris Charmatz da in Kampnagel und zuvor schon beim Festival d’Avignon im Ehrenhof des Papstpalastes präsentiert. In der Abgeschlossenheit und Ödnis der ehemaligen Maschinenfabrik in Hamburg dürfte das Ganze noch düsterer und trostloser wirken als unter dem hohen Sommerhimmel Südfrankreichs. Die bis in die Tiefe komplett geöffnete Halle der K6 füllt ein Stand-Kran zusammen mit einer großen Schüttelplattform und einer Rollen-Maschine für ein überbreites Fließband, das eine Halfpipe-ähnliche Anhöhe produziert, von der jeder abrutscht, der die Schräge zu erklimmen versucht. Alles ist dunkel – die Maschinerie, das Fließband ebenso wie die in schwarze Hosen und Hemden gekleideten Menschen in Straßenschuhen.

Drei von ihnen liegen – anfangs kaum erkennbar – gekrümmt auf dem schwarz ausgelegten Boden, als der Kran ferngesteuert mal nach rechts, mal nach links schwingt und dabei eine am Boden sowie an diversen Streben befestigte Schnur aufkurbelt, die beim Abreißen entsprechende (von Mikrophonen verstärkte) Ratsch-Geräusche produziert. Die Schnüre enden schließlich an zwei dieser Menschen, die der Kran nun nacheinander wie leblose Puppen emporzieht und wieder ablässt. So hängen sie in den Seilen, werden auf und nieder geschwenkt, immer wieder, die eine schlaff am Becken in der Mitte durchgeknickt, der andere wie Schlachtvieh bizarr an einer Fußfessel. Irgendwann ergreifen sie die am Boden liegende dritte Person, die kraftlos in ihren Armen hängt, bis alle drei schließlich auf der Schüttelplattform landen. Diese wackelt gefühlte 10 Minuten lang mit zunehmender Geschwindigkeit und anschwellendem Getöse immer heftiger und rüttelt die drei armen Gestalten dabei so durch, dass einem schon vom Zusehen alles weh tut, ganz zu schweigen von der Erschütterung für das Gehirn.

Währenddessen tragen andere Erwachsene leblose Kindergestalten herein und legen sie nach und nach auf dem Boden ab. Und nun beginnt eine sich ständig wiederholende Schlepperei: die Kinder werden von hier nach da getragen, sie werden über Bäuche und Rücken geschoben, ihre Beine werden gegrätscht, gestreckt und angewinkelt, ihre Körper gekippt und gewälzt, geschüttelt und geworfen, während die Erwachsenen in Zuckungen verfallen, über den Boden robben, schreien, kreischen, grölen, jammern (wiederum von Mikrophonen verstärkt), die Kinder ein einziges passives Manipulationsmaterial in ihren Händen.

Als es kaum noch auszuhalten ist, schält sich Gesang aus dem Lärm, die Schüttelmaschine ist inzwischen zum Stillstand gekommen, fast choralhaft klingen die Stimmen, die schließlich Beethovens Kanon „Signor Abate“ anstimmen, aber ungeordnet und unkoordiniert, bis sich ein durchdringender Pfeifton aus dem Off breit macht. Ein Dudelsackbläser kommt aus dem Dunkel und schart nach und nach Kinder und Erwachsene um sich, während die Töne aus seinem Instrument immer schriller und durchdringender werden, begleitet von einem wummernden Maschinen-Bass. Alle stolpern und schlurfen übereinander, umeinander, trampeln, zappeln, bleiben liegen. Wieder werden die Kinder herumgeschleppt wie nasse Säcke, bis sich die Rollen langsam umkehren: die Kinder übernehmen die Regie, die Erwachsenen werden passive Opfer. Aber die Kinder entwickeln dabei keine Eigenständigkeit, nichts Neues, Positives, Verändertes. Sie imitieren im Grunde das, was die Erwachsenen vorher mit ihnen gemacht haben. Und während der Dudelsackspieler an einer Fußfessel am Kran hochgezogen wird, stellt sich ein kleiner Steppke an den Bühnenrand und schaut ins Publikum – herausfordernd, aber irgendwie auch schüchtern, und seltsam fehl am Platz. Licht aus. Der Beifall kommt zögerlich und bleibt verhalten.

Wenn Boris Charmatz mit diesem Stück beabsichtigt hat, das Publikum zu verstören, dann ist ihm das sicher gelungen. Aber es ist keine Irritation, die nachdenklich macht, sondern der schale Nachgeschmack einer alles niedermachende Trostlosigkeit, die Abwehr auslöst, Widerwillen, Aggression. Boris Charmatz möchte sein Stück als politisches Statement verstanden wissen, bezogen auf die Arbeit des NGO-Netzwerkes Education Sans Frontières („Erziehung ohne Grenzen“): „Wir tanzen auf der Bühne, aber wir vergessen nicht, in welche Realität diese Bühne hineingebaut ist.“ Warum er die Realität derart auf die düsteren, perspektivlosen, manipulativen, übergriffigen Anteile reduzieren muss, bleibt im Dunkeln.

Noch einmal heute Abend (20 Uhr)

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