Von der Manipulierbarkeit des Körpers

„Am Puls des Lebens“, zweiteiliges Tanztheater von Gregor Zöllig in Bielefeld

Bielefeld, 02/05/2010

Es geht (pseudo-)wissenschaftlich zu im ersten Teil dieser Tanztheaterpremiere. Zum Glück kommt aber auch die Kunst nicht zu kurz. Ganz im Gegenteil. „Puls 1“ ist eine raffinierte, multimediale Performance-Installation der Berliner Künstlerin Veronika Witte, an der Gregor Zölligs zehnköpfige Kompanie in allerlei Vermummungen oder Körperentstellungen beteiligt ist und das Orchester mit dem von einer Bühnenempore herab E-Violine streichenden Sergej Bolkhovets John Adams‘ „The Dharma at Big Sur“ spielt.

Beim Betreten des Foyers werden die Zuschauer gebeten, ein Formular für eine wissenschaftliche Erhebung des Berliner ISF-Instituts auszufüllen. Das ist ein fiktives Meinungsforschungsinstitut, 2001 von Witte gegründet, um Antworten auf eigene Befragungen in ihre Installationen einzubeziehen. Diesmal zielen die Fragen auf das Verhältnis zum eigenen Körper und auf die Position zu Schönheits-OPs, Gentests und ähnliche medizinische Angebote, um menschliche Körper zu manipulieren.

Auf der Bühne beginnt die Performance mit einer Folge von Menschenbildern und Zitaten, die im Zeitraffer über den Gazevorhang flimmern, während ein „Wissenschaftler“ (der Tänzer Dirk Kazmierczak) die (fiktiven) Ergebnisse der Befragung bekannt gibt. Für die Raumgestaltung verlängert Witte die schwarze Holzvertäfelung des Zuschauerraums auf beiden Seiten. Hinten allerdings sind die Holzpanelen ausgefranst. Die Empore für den Geiger ist halb heruntergebrochen; das Gestänge ragt in den Raum. Des schäbigen Ambientes ungeachtet zeigt der Rückprospekt edelste abstrakte Kunst wie in einem digitalen Bilderrahmen.

Die Tänzer demonstrieren heutigen Körperkult: da vermisst sich eine mit zig Gürteln, die sie brutal fest um Schenkel, Taille, Brust und Kopf zurrt. Andere bemalen sich, einer ritzt sich den Oberkörper wie bei einer anatomischen Vivisektion. Mal tragen alle Glatze, mal identische schwarze Perücken-Pagenköpfe. Besonders schöne Bilder ergeben sich, wenn mehrere Tänzer hintereinander stehen und ihre Arme so von sich strecken oder verhakeln wie man Darstellungen des vielarmigen indischen Tanzgottes Shiva kennt – eine wunderschöne Reverenz an die von indischen und indonesischen Klängen durchzogene Musik. Eine Mumie in weißer Plastikfolie entrollt sich sehr malerisch, und schließlich tanzen alle fast nackt und wie befreit…. im Sauerstoffzelt.

In „Puls 2“ steht heutiges urbanes Leben im Vordergrund. Der Künstler Stephan Kaluza stellt ein Haus auf die Bühne, das auf den ersten Blick wie eine Wand im Baumarkt mit Materialmustern von Kacheln, Türen und Fenstern wirkt (und an seine fotografischen „Bildstücke“ erinnert). Davor tanzt das Ensemble in Alltagskleidung zu einem eindringlichen Paukensolo und Adams‘ berückend minimalistischen „Fearful Symmetries“ heutige Alltagsszenen – Hast und Einsamkeit, Verwirrung der Gefühle und Aggression. Da knutscht ein Paar wie in einem erbitterten Ringkampf. Drei prügeln einen Kumpel fast zu Tode.

Lichtblicke im brutalen Miteinander: ein faszinierendes Schnellsprechsolo mit Gebärden bietet Cordelia Lange (die immer noch schneller werden soll), und später schreitet sie traumwandlerisch auf hohen Stelzen von Schulter zu Schulter mehrerer Männer.

Schließlich gießt sich einer kaltes Wasser über den Kopf. Körperkunst wird zum Kraftakt, Knochenarbeit ist das – bis zum Umfallen. Feierabend. Der Spuk ist vorbei. Oder doch nicht. Alle ziehen sich in ihre kleinen Wohnungen zurück, wirken dort wie isoliert, eingesperrt – und sehen sich konfrontiert mit ihrer Endlichkeit durch die Litanei des Predigers in Adams‘ „Christian Zeal & Activity“. Ein grandioses Theaterereignis.

www.theater-bielefeld.de

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