Die Choreografie als Resteverwerter

Eva-Maria Lerchenberg-Thönys „Don Quijote“ und Audur Bjarnadóttirs „Salka Valka“ bei den 2. Braunschweiger „Tanzwelten“

Braunschweig, 10/03/2009

Im Tanz wachsen die Traditionen schnell (und ebenso schnell brechen sie manchmal ab). Gerade mal eineinhalb Spielzeiten hat die Österreicherin Eva-Maria Lerchenberg-Thöny das Amt der Tanztheaterchefin am Staatstheater in Braunschweig inne, und schon bestreitet sie ihr zweites Festival. Wie im Vorjahr möchten die Braunschweiger „Tanzwelten“ zeigen, wie groß und weit die Welt des Tanzes ist, und so präsentieren sie neben der hauseigenen Kompanie und den Stücken von Lerchenberg-Thöny Ensembles aus Griechenland und Finnland, aus Island, China und dem Senegal, nicht zu vergessen Werke der Preisträger des Choreografen-Wettbewerbs von Hannover, die dem Spektrum slowenische, norwegische, italienische, amerikanische und polnische Aspekte hinzufügen.

Die Eröffnung machten zwei Stücke, die sich großer literarischer Vorlagen zu bemächtigen versuchten: Lerchenberg-Thönys eigener „Don Quijote“ und „Salka Valka“ der Isländerin Audur Bjarnadóttir nach einem Roman ihres Landsmanns, des Literatur-Nobelpreisträgers Halldor Laxness; auf sehr verschiedene Weise demonstrierten die Werke, wie problematisch es ist, wenn die Choreografie versucht, Stoffe der Weltliteratur nachzuschaffen. Lerchenberg-Thöny hatte eine auf den ersten Blick verblüffend einleuchtende Idee. Sie erklärte des Cervantes Don Quijote, der – angetrieben von romantisch-verkitschten Idealvorstellungen – auszog, mit kühnen Taten die längst aus den Fugen geratene Welt der Ritter wieder herzustellen und dabei aufs Komischste scheitert, kurzerhand für verrückt und wies ihn in eine Klapsmühle ein. Thomas Peknys Bühne errichtet mit Gittern und fahrbaren Feldbetten eine zweigeschossige geschlossene Anstalt, in der zehn weiß gekleidete Frauen und Männer von sieben ebenso weiß gekleideten Ärzten und Pflegern kujoniert werden. Bis Günther Pick als Quijote eingeliefert wird, zicken sie als isolierte Individuen vor sich hin. Eine steht Kopf mit hoch erhobenen Beinen, andere pflegen spastische Zipperleins oder wälzen sich unruhig am Boden, und immer wieder bricht – ausgelöst von einem Happen Penderecki-Musik, die Burkhard Bauche als Dirigent zusammen mit eher besänftigenden Tönen von Telemann und Vivaldi sowie spanischer Gitarrenmusik als folkloristische akustische Grundierung dazu gibt – explosionsartig ein Bewegungsschub aus, der die Tänzer rotieren und die Beine werfen lässt. Der neue Patient Don Quijote, zunächst durch nichts anderes ausgewiesen als durch einen kleinen Spitzbart (später wird man ihn kurzfristig mit Helm und Brustpanzer sowie einer Stange als Lanze ausstatten), durchbricht die Isolation der Kollegen, indem er auf sie zugeht und sie liebevoll begrapscht. So schafft er allmählich eine Solidarisierung, die sich – mit wild herumkarriolenden Betten – als Auflösung der alten szenischen Ordnung anbahnt, die vom Aufsichtspersonal jeweils rasch wieder hergestellt wird. Nach einem halbherzigen Ausbruchsversuch mündet die Handlung in einem allgemeinen Aufstand. Don Q. triumphiert, zu einem Ausschnitt aus Telemanns „Don Quixote Suite“, in einem Siegestanz, seine Kollegen räumen das Feld, die Bühne versinkt im Dunkel, 75 Minuten sind vorüber. Ein vielen Handlungsballetten eigenes Manko hat Lerchenberg-Thönys „Don Quijote“ nicht: Auch ohne einen Blick ins Programmheft versteht der Zuschauer jederzeit, was auf der Bühne geschieht. Doch anstelle dieses Mankos besitzt die Choreografie einen anderen, schwerer wiegenden Fehler: Ihr Bewegungsmaterial ist von einer schwer unterbietbaren Eintönigkeit. Fünf Viertelstunden lang wiederholen sich immer dieselben Zuckungen und Grand Jetés, Pirouetten und Körperkrümmungen. Auch Patienten und Aufsichtspersonal unterscheiden sich in ihrem Bewegungsverhalten nur unwesentlich; im Grunde sieht man abendfüllend einem vagen weißen Ringelpietz zu, den Peknys eher einfallslose Kostüme nicht eben attraktiver machen.

Was tags darauf die neun Tänzer des Swallowtheatre aus Reykjavik in Audur Bjarnadóttirs „Salka Valka“ erzählen möchten, vermag der Zuschauer im Braunschweiger Kleinen Haus nur eingeschränkt nachzuvollziehen. Was er sieht, sind zwei Frauen, anscheinend Mutter und Tochter, die durch schwere Wetter in eine eher karge neue Umgebung kommen: im Roman das Fischerdorf Oseyri am Axlarfjord im Westen Islands. Im Bühnenhintergrund hat Sigurjon Johannsson ein größeres und ein kleines Rechteck gegeneinander gestellt, auf denen eine schwere See tobt und Möwen fliegen, Fische schwimmen und Tölpel den Betrachter anschauen. Die beiden Frauen geraten anscheinend in Konflikt mit den Bewohnern ihrer neuen Heimat. Die ältere baut eine komplizierte, alles andere als gewaltfreie Beziehung zu einem ziemlich groben Klotz von Mann auf, welche die jüngere anscheinend zu verhindern sucht, ob zum Schutz der älteren oder aus Eifersucht, bleibt offen. Irgendwann hüllt sich das Ensemble in schwere Arbeitsschürzen, während über die Projektionsflächen im Hintergrund Fische flitzen: anscheinend befinden wir uns in einer Fischfabrik, möglicherweise bei einem Arbeitskampf, denn die jüngere der Frauen schwingt eine rote Fahne. Die ältere aber erscheint im Brautkleid, endet aber anscheinend als Leiche am Strand und wird als unförmiges Bündel fort getragen. Auch der jüngeren grünt kein Liebesglück. Am Ende eines längeren intensiven Paartanzes mit einem der hübscheren jungen Männer des Ensembles bleibt Salka Valka – denn der Titel des 60-Minuten-Stücks ist auch der Name seiner Hauptfigur – allein zurück.

Vieles also ist unklar in Bjarnardóttirs Tanzstück „Salka Valka“. Doch da Tanzstücke nun einmal weniger von ihrer nacherzählbaren Handlung leben als von der Kraft und Originalität ihrer Bewegungen, ist der Eindruck, den das isländische Stück hinterlässt, ungleich stärker als bei Lerchenberg-Thönys verständlicherem „Don Quijote“. Denn Bjarnadóttir, die ihre Ausbildung in Reykjavik erhielt und im Laufe einer internationalen Karriere auch beim Kölner Tanzforum getanzt hat, kann choreografieren. Sie gibt ihren Tänzern, Frauen wie Männern, hoch expressive Bewegungen auf, in denen die Emotionen und seelischen Befindlichkeiten starken Ausdruck finden. Man schaut hin, wenn sich Lára Stefánsdóttir, Unnur Elisabet Gunnarsdóttir und Pontus Petterson ineinander verhaken – und das ist mehr, als man von manchen anderen Stücken und Tänzern sagen kann. So rettet Island, durchaus überraschenderweise, den Auftakt der 2. Braunschweiger „Tanzwelten“.

www.staatstheater-braunschweig.de

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